Die heilige Familie

Thomas Wolfes Roman „Schau heimwärts, Engel“, besprochen von Andreas Gebhardt

„Denn es ist die Verbindung von Gewöhnlichem und Fabelhaftem, die Wunder hervorbringt“ heißt es in dem 1929 erschienenem Roman „Schau heimwärts, Engel“ auf Seite 549. Und ist es eine gewöhnliche Geschichte, die der amerikanische Romancier Thomas Wolfe (1900-1938) auf über 700 Seiten fabelhaft ausbreitet, keine andere, als die seiner eigenen Familie und eigenen Kindheit und Jugend. Eine Geschichte voller Liebe und Hass, Leidenschaft und Abgründe, Angst und Wut und Verzweiflung, Eifersucht, Enttäuschung und Krankheit und Tod, Vertrauen und Zuneigung, Verständnis und Liebe. Der Vater: Steinmetz, Choleriker, Säufer, ein großer Redner mit literarischer Bildung, unabhängig, freiheitsliebend. Die Mutter: Krämerseele, geizig, engstirnig, hart arbeitend, um ihren Reichtum zu mehren und um sich den Rücken freizuhalten von ihrem Mann, den sie nicht liebt. Sie gebärt neun Kinder, von denen sechs überleben. Der Letztgeborene ist Eugene Gant alias Thomas Wolfe, geboren 1900.

„Schau heimwärts, Engel“, Wolfes Debüt, war und ist ein literarisches Ereignis, ein Mikrokosmos im Makrokosmos des Weltgetriebes, ein kühn gesponnenes Textgebilde mit poetischer Wucht und Raffinesse. Wolfe war ein Besessener, der ununterbrochen schrieb, notierte und danach strebte, jährlich eine Million Wörter zu Papier zu bringen. Es ist ein Bildungsroman im Sinne einer Menschwerdung, aber auch einer, in dem Wolfe seine ungeheure literarische Bildung ausbreitend verarbeitet. Und es ist ein Kleinstadtroman, letztlich ein Familienidyll, wenn auch mit scharfen Ecken und Kanten, aber somit niemals kitschig oder banal, sondern leidenschaftlich und maßlos. Wolfe erzählt nicht linear, sondern, ganz im Sinne der literarischen Moderne, episodenhaft, mit Montagetechniken und Momentaufnahmen, Assoziationsketten, Anspielungen und Anekdoten.

Diese Familie Gant begleitet einen eine ganze Weile, sofern man sich auf dieses Leseabenteuer einlässt. Bei den vielen Protagonisten, Ereignissen und Abschweifungen mag man bisweilen den Überblick verlieren. Aber so ist es doch, das Leben: Ein mäandernder Strom, der mal gemächlich und trüb dahin zieht, mal über die Ufer tritt und alles überflutet oder überschäumend und sprudelnd alles mitreißt und verschlingt. Die Fortsetzung der Lebensgeschichte Eugene Gants heißt denn auch treffend „Von Zeit und Fluss“ (noch mal 1200 Seiten – ich freue mich darauf!)

Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel. Übertragen von Irma Wehrli. Manesse-Verlag, 784 Seiten, 29,90 Euro.

Auch Thomas Wolfes „Deutschlandreise“ wurde hier bereits besprochen. Sie finden die Buchbesprechung HIER.

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