Überleben während der Belagerung

Christa Müller über Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen

Dieser außergewöhnliche Bericht mutet dem Leser eine Menge zu. Ich habe ihn mehrfach gelesen, mit langen Abständen dazwischen und werde ihn immer behalten!

Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen berichten über Menschen und Geschehen im 900 Tage von der Wehrmacht belagerten Leningrad im Jahre 1941. Die Lektüre ist äußerst beklemmend. Nicht, weil das Elend gefühlvoll und dramatisch dargestellt würde. Lidia Ginsburg sah sich verpflichtet, ihr Erleben sachlich festzuhalten und zu reflektieren. Als Wissenschaftlerin schildert sie erbarmungslos genau, wie der Blockademensch (sie nennt ihn N. und spricht von ihm in der 3. Person) unter extremen Bedingungen denkt, handelt und in dieser Zeit der Entbehrungen zu überleben versucht. Ginsburg hat nicht von Hunger und Kälte erzählt, sondern beides für den Leser durch ihre detailreichen Bilder fast körperlich spürbar gemacht. Die Menschen sterben an Auszehrung inmitten von Freunden und Familie: „Fluchend teilen sie und teilend sterben sie.“ Sie haben keine Angst mehr vor Bomben, entfremden sich vom Körper, schieben die nächste Mahlzeit durch selbst auferlegte Routinen und Denkmuster hinaus. Sie fühlen Schuld angesichts der Schwäche des Willens.

Und lange später erkennt die Überlebende: „Was sich dem Menschen in Grenzsituationen erschließt – es verschließt sich auch wieder. Sonst wären etwa die Menschen unserer Generation längst außerstande weiterzuleben…“

Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Suhrkamp Verlag, 240 Seiten, 22,95 EUR (abgebildet ist die Taschenbuch-Ausgabe von 1997).

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