Thomas Wolfes „Deutschlandreise“, besprochen von Andreas Gebhardt
Mit den Deutschen, den Hunnen, wie Thomas Wolfe sie nennt, tut er sich zunächst schwer: Stiernackig, versoffen und verfressen. Massenhaft Schweinefleisch und Würste stopfen sie in sich hinein und literweise Bier dazu! Einerseits. Andererseits sind da die grandiosen Landschaften, die wunderbaren Wälder, die romantischen Städte, die Weinberge, die riesigen Museen, die übervollen Buchhandlungen mit den Werken all dieser grandiosen Dichter und Denker. Wie passt sie zusammen, „die edle Intelligenz der Stirn, die säuische Gier des Körpers“?
Der amerikanische Romancier Thomas Wolfe (1900-1938) bereiste Deutschland zwischen 1926 und 1936 achtmal kreuz und quer: München, das Rheinland, Berlin, Hannover, Frankfurt, Stuttgart, Freiburg, Bonn usw. Es sind Reisen, die sein Bild von Deutschland und den Deutschen prägen. Auf dem Oktoberfest sucht er sternhagelvoll mit einigen Bajuwaren Streit und wird prompt von ihnen krankenhausreif geprügelt. Er trägt’s mit Fassung und bleibt neugierig, aufmerksam, wach.
Wolfe schrieb zwei Großromane: „Schau heimwärts Engel“ und „Von Zeit und Strom“. In Deutschland, wo beide 1932 und 1935 übersetzt bei Rowohlt erschienen, war er zeitweilig berühmter als in seiner Heimat. Vielleicht hat diese Berühmtheit, die Partys bei Verlegern und bekannten Leuten seinen Blick auf das Naziregime getrübt. Er scheint die Deutschen zunehmend durch die rosarote Brille seines Erfolgs gesehen zu haben: Fantastische Menschen, hilfsbereit, freundlich. Erkannte er nicht ihren Fanatismus, ihren Hass, ihre Verblendung?
Hier ist einer zu erleben, der es sich nicht leicht macht, der mit sich rang und haderte und spottete und bewunderte, der genau beobachtete, registrierte, verwarf und aus Zweifeln, Hohn und alsbald inniger Zuneigung ganz allmählig sein Deutschlandbild formte. Und wir werden Zeugen dieser Aneignung. Seltsamerweise spielt Politik in seinen Aufzeichnungen so gut wie keine Rolle. Der vorzüglich edierte Band besteht aus chronologisch angeordneten Notizbucheinträgen, Briefen und Erzählungen. In der letzten wird ein Jude, Reisegefährte im Zugabteil, beim Versuch die deutsche Grenze in Ausland zu überqueren von der Gestapo geschnappt und abgeführt. Wolfe beschreibt die Szene 1936 voller Hellsicht und mit größter Anteilnahme, Ergriffenheit und Verwirrung. Sie markiert auch seinen eigenen endgültigen Abschied von Deutschland im selben Jahr.
Ich hatte zuvor von Wolfe noch nichts gelesen. Seine beiden Romane stehen nach dieser Lektüre auf meinem Leseplan.
Thomas Wolfe: „Eine Deutschlandreise“. Literarische Zeitbilder 1926-1936, hg. v. Oliver Lubrich. Manesse, 410 S. 25 Euro.