Daniele Dell’Agli bespricht Alexander Stevens‘ „Aussage gegen Aussage“
Alexander Stevens, einer von Deutschlands prominentesten Strafverteidigern, hat sich auch als Autor wiederholt kritisch mit unserem Rechtssystem befasst. In seinem neuesten Buch stellt er sieben Fälle aus seiner prozessualen Praxis vor, wobei er virtuos von Fallbeschreibung zu Analyse zu Kommentar wechselt und durch die verzögerte Auflösung geschickt den Leser als gleichsam potentiellem Schöffen einbezieht, der sich mit den Fragen konfrontiert sieht, auf die auch ein Richter Antworten für sein Urteil finden muss. Das macht dieses mit der rhetorischen Verve eines geübten Anwalts erzählte Sachbuch spannender als jeden Krimi.
Thematisch hat Stevens den Schwerpunkt seines Buches auf zwei Grundprinzipien des Strafrechts gelegt, „Aussage gegen Aussage“ und „Im Zweifel für den Angeklagten“, um zu zeigen, wie die herrschende Rechtsprechung diese Grundsätze und mit ihnen die in Art. 3 der Verfassung garantierte Gleichheit vor dem Gesetz zunehmend aushöhlt. So lernt man einiges über Verfahrensdefizite des deutschen Strafrechts, die etwa in angelsächsischen Ländern undenkbar wären: dass zum Beispiel für die Verurteilung eines Angeklagten bereits die Aussage seines mutmaßlichen Opfers ausreicht – ohne chemische, biologische oder sonstige Spuren oder Dokumente. Und mit der Entbehrlichkeit objektiver Beweismittel erhöht sich der ohnehin schon unverhältnismäßige Ermessensspielraum deutscher Richter, ihre „Freiheit“ bei der Beweiswürdigung. Aussage gegen Aussage? Am Ende zählt bei der Entscheidung, welcher Aussage der Richter Glauben schenkt, allein seine persönliche Überzeugung – und die wird etwa bei Sexual- und Gewaltdelikten maßgeblich vom vorherrschenden Zeitgeist bestimmt, der uns seit Jahrzehnten tagtäglich und stereotyp darauf konditioniert, in Männern immer nur Täter, in Frauen immer nur Opfer zu sehen. obwohl Kriminologen die Quote der Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungen und erst recht bei Missbrauchsvorwürfen in Sorgerechtsstreitigkeiten kontinuierlich nach oben korrigieren. Schon mit dem Titel seines engagierten Nachworts, in dem Stevens seine Erfahrungen als Strafverteidiger resümiert, bringt er die deprimierende Bilanz auf den Punkt: „Im Zweifel gegen den Angeklagten“. Sein brillantes Plädoyer für die Achtung der Menschenwürde vor Gericht liest sich atemlos und zugleich beklemmend, denn man spürt, dass es buchstäblich jeden treffen kann. Auch darum: Ein Buch, dem man nicht genug Leser wünschen kann.
Alexander Stevens: „Aussage gegen Aussage“, Piper-Verlag 2020, 256 S., 10 Euro.