Wer benutzt hier wen?

Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Enteignung“, besprochen von Helen MacCormac

Reinhard Kaiser-Mühlecker ist ein preisgekrönter Autor aus Österreich. Er wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren. 2008 erschien sein Debüt „Der lange Gang über die Stationen“, mit dem er sofort Leser und Kritiker begeistern konnte. 2016 schaffte er es mit „Fremde Seele, dunkler Wald“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Meisterhaft zerlegt er nun in seinem siebten Roman „Enteignung“ den Mythos der ländlichen Idylle.

Sehr heiß ist es zu Beginn dieser Geschichte und sehr träge. Journalist Jan kehrt zurück in die Voralpenregion Österreichs, in der er aufgewachsen ist. Er scheint die Welt satt zu haben, arbeitet mehr oder weniger für die Lokalzeitung und kümmert sich ansonsten um seine Katze. Ihn packt die Melancholie. Ein Schnösel ist er, ein eitler, wenn auch ausgebrannter Geck, der als Hobbyflieger nur aus der Höhe die sanfte Natur des Landstrichs, in dem er nun lebt, genießen will. Sogar die Affäre mit einer Lehrerin langweilt ihn, bis er entdeckt, dass Ines sich auch mit anderen Männern trifft. Er staunt: Am Boden sind die Dinge kompliziert- die Atmosphäre im Dorf ist angespannt und verschwörerisch, eine gar dunkle Vorahnung liegt in der Luft.

Gerade Ines‘ Beziehung mit dem dumpfen Schweinebauern Flor lässt ihm keine Ruhe. Der Journalist kann sein Handeln nicht einmal sich selbst erklären, als er als Knecht im Schweinemastbetrieb anheuert, aber man ahnt es – er will die Demütigung auskosten.

Der Reigen beginnt: Wer genau wann und wo mit wem schläft, ist für Jan bald genauso interessant wie die harte Arbeit im Schweinestall. Seinen Job bei der Lokalzeitung ist er schnell los, aber er blüht auf, während er heimlich Flor und Ines nachspioniert oder mit Flors wortkarge Ehefrau Hemma ins Bett steigt. Geredet wird sowieso nicht viel, die Bauersleute haben andere Sorgen. Sie befürchten, wahrscheinlich zu Recht, dass ihre Lebensgrundlage mutwillig zerstört werden soll.

Als plötzlich auch noch der Ortsvorsteher heftig im Geschehen mitmischt, wird klar, dass es kein Entrinnen aus dem Dorfleben gibt. Jan reagiert überempfindlich gegenüber seiner Umgebung und wird von seinen Emotionen geleitet. Klar und atmosphärisch, aber stets eigenwillig distanziert, rechtfertigt oder leugnet er gerne sein Tun und vermischt ungeniert gedachtes mit erlebtem. Das unaufrichtige Handeln des Erzählers – auf tiefdunkle österreichische Art lustig – wird durch seine ebenso unaufrichtigen Schilderungen grandios verstärkt. Es bleibt spannend und undurchsichtig in Mühleckers Roman. Wer hier wen benutzt – wer weiß es schon. Auch wenn man die Hintergründe mehr vermutet als versteht, möchte man Jan an die Hand nehmen und mit ihm dieses vermaledeite Dorf so schnell wie möglich verlassen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung S. Fischer, 224 Seiten

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