Mit Vollgas denken

Octave Mirbeaus Anti-Reisebuch „628-E8“, besprochen von Andreas Gebhardt

Manche Bücher treffen einen wie Liebespfeile mitten ins Herz und es ist augenblicklich um einen geschehen. So erging es mir mit Octave Mirbeau und seinem irrwitzigen Reisebuch „628-E8“. Octave wer? E was? Hinter dem Titel verbirgt sich so etwas wie die Schilderung einer Autoreise durch Belgien, Holland und Deutschland, die 1907 in Frankreich erschien. 628-E8 war das Nummernschild des Charron, in dem Mirbeau mit satten 30 PS unterm Hintern durch die Gegend bretterte.

Mirbeau (1848-1917) war Journalist, Romancier, Dramatiker und Kunstliebhaber, der übrigens als erster das Genie Van Goghs erkannte. Als radikaler Anarchist, Ästhet und dekadenter Freidenker legte er sich mit den Spießern, dem Klerus und Rest-Adel, den Politikern, Rassisten, Sklaventreibern, Homophoben, Verlogenen, Antisemiten und verklemmten Moralaposteln seiner Zeit an – also eigentlich mit allen. Der Franzose war Automobilist als das Automobil noch cool war und ein tolles Vehikel der Geschwindigkeit. Das Auto verkörpert ihm Freiheit und Unabhängigkeit, nicht zuletzt von den „tyrannischen Fahrplänen“ der Eisenbahn. Der Geschwindigkeitsfanatiker „rast mit Vollgas vorbei, denkt mit Vollgas, fühlt mit Vollgas, liebt mit Vollgas, lebt mit Vollgas.“ Und so hat er sein Buch geschrieben, konsequent die Regeln der Reiseschriftstellerei über den Haufen fahrend: Keine Chronologie, keine öden Betrachtungen über Sehenswürdigkeiten. Er schildert Zustände und Abgründe, Realitäten und Visionen, alles nur von seinen Launen und Stimmungen diktiert. Regellose Unordnung als Regel. So lästert er schamlos und boshaft, witzig und zynisch, kreuz und quer über Länder und Leute: die miserablen Straßen Frankreichs, die Scheußlichkeit Brüssels, die Niedertracht des Belgischen Königs oder „den am kolossalsten hässlichen Dom der Welt“, also den Kölner.

Das für mich schönste Kapitel ist „Die Fauna der Landstraße“: Eine urkomische Charakterkunde jener Tiere, die dem dahinjagenden Automobilisten immer im Weg stehen, z. B. Esel, Gänse, Schafe oder Radfahrer. Vor allem Hühner fährt er mit Vergnügen über den Haufen, und zwar, weil sie „vollkommen dämlich“ sind. Die Hühner und Hähne hasst er wie seine Landsleute: „Die Gallier, geschwätzig, großmäulig, brünstig, plärrend, kriegerisch und militaristisch, konnten sich gar kein besseres Emblem aussuchen.“

Octave Mirbeau: 628-E8. Bonn. Weidle-Verlag. 600 Seiten, 29 €.

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