Verstörende Kargheit

Daniele Dell’Agli über Jean-Louis Giovannonis Gedichte

Jean-Louis Giovannoni hat sich mit rund zwanzig Gedichtbänden und ebenso vielen Prosaarbeiten einen festen Platz unter den bedeutendsten Autoren Frankreichs erschrieben. In Deutschland ist er nahezu unbekannt, bislang war von ihm lediglich der Band „Ein Ort im Blick der Steine“ im Verlag Jutta Legeuil (Stuttgart 1989) erschienen. Um mehr ist es zu begrüßen, dass nunmehr der Elsinor Verlag jenes Werk in deutscher Übersetzung herausbringt, mit dem Giovannoni 1974 debütierte und das seinen Ruhm begründete: „Den Toten bewachen“ (Garder le mort).

Der deutsche Titel hält sich dabei peinlich genau am Original, doch vermag er nicht das Schillernde des französischen „garder“ zu vermitteln, das etymologisch aus dem althochdeutschen warten stammt und in dem die vielen Bedeutungsnuancen von achtgeben, bewachen, beschützen, bewahren, behalten bis hin zu „nicht verlassen“ sich bis heute lebendig erhalten haben. Das ganze Spektrum einer solchen „Wache“ angesichts aufgebahrter toter Leichname (der Autor hat seinen Band zwei verstorbenen Frauen gewidmet) entfalten die kurzen Gedichte dieser Sammlung in einer lakonischen, lapidaren Sprache, die im Französischen – das Original kann man in dieser zweisprachigen Ausgabe dankenswerter Weise laufend mitlesen – durchaus Tradition hat, wenn man an etwa an die durch Übertragungen Paul Celans auch bei uns bekannt gewordenen André du Bouchet oder Jean Daive denkt.

Giovannoni indes verschärft die Kargheit dieses in der deutschen Literatur, zumal in der Lyrik, fremden Sprachduktus durch radikalen Verzicht auf metaphorische oder allegorische Konnotationen noch weiter, wodurch die Kälte, das Abweisende und Menschenferne des verstummten, in sich verschlossenen Kadavers beklemmend hervortritt. Diese Bilderaskese ist seitdem der stilistische Kern seiner Poetik geblieben, eines Schreibens gegen den modischen Bilderrausch und seinen wohlfeilen Assoziationsketten, was der Lektüre wiederum eine besondere Art von Konzentration abverlangt, eine Versenkung in die Leere, die sich einstellt, wenn die üblichen Hilfs- und Lockmittel ausbleiben. Denn der schmucklosen Geste des „So-ist-es (und mehr ist da nicht)“ fehlt, ins Extrem getrieben, sogar jedes Pathos der Transzendenzlosigkeit, hier wird nirgends hinübergesetzt, nur teilnahmslos protokolliert, mit unerbittlicher Präzision. Die Geheimnislosigkeit nackter Tatsachen wird in solcher Darstellung dann selbst zum Geheimnis: nämlich des Nichtverstehens oder gar der Unmöglichkeit, die reine Materialität eines zerfallenden Körpers zu verstehen. Und es versteht sich, dass diese Poesie der Erfahrung der Vergänglichkeit irdischen Lebens jeden metaphysischen Trost verweigert, weshalb das buchstäblich rat-lose Fazit am Ende des Gedichtbands nur lauten kann:

On mourra / sans rien comprendre / / On ne peut pas faire autrement //

On ne voulait pas de corps

Wir werden sterben / ohne das geringste zu verstehen / / Wir können nicht anders //

Wir wollten keinen Körper

Jean-Louis Giovannoni, Den Toten Bewachen  – Garder Le Mort. Gedichte. Aus dem Französischen von Paula Scholemann und Christoph Schmitz-Scholemann. Elsinor Verlag 2021, 156 Seiten, 16 Euro.

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