Die Luft so voller Düfte

„Über Meereshöhe“ von Francesca Melandri, empfohlen von Christa Müller.

Francesca Melandri wurde mit dem Bestseller „Alle außer mir“ weltberühmt. Ihr zweiter Roman „Über Meereshöhe“ ist ein mindestens ebenbürtiges Meisterwerk. Melandri war Drehbuchautorin. Auch wenn uns aus einem Film oder Buch Gerüche nicht erreichen, so ist der erste Satz des Romans – „Eine Luft so voller Düfte, nein, das hatten sie nicht erwartet“ – beispielhaft für ihre große Begabung, den Leser mit allen Sinnen! in eine Szenerie hineinzuziehen. Die Handlung knüpft an Protestbewegungen der späten 70er Jahre in Italien an, beschreibt besonders in Rückblenden Formen der Gewalt, des Terrors, der (auch inneren) Gefangenenschaft. Wie in einem Brennglas gebündelt, werden Geschehnisse, Erinnerungen und Gefühle der Protagonisten während eines Zeitfensters von zwei Tagen offenbar.

Luisa, Bergbäuerin, Mutter von fünf Kindern, besucht ihren gewalttätigen Mann, einen zweifachen Mörder, im Hochsicherheitstrakt einer romantisch anmutenden Gefängnisinsel vor Sizilien. Sie ist beglückt, zum ersten Mal das Meer zu sehen. Auf der Fähre trifft sie auf Paolo, den humanistisch geprägten Philosophielehrer, dessen Sohn in der terroristischen Szene gemordet hat und nichts bereut. Seine Frau starb vor Kummer. Nitti, der junge Strafvollzugsbeamte, der Mörder bewacht, ist selbst hart und gewaltbereit geworden. Während des Aufenthaltes ist er für die Besucher verantwortlich. Aufkommender Sturm, ein Maestrale, verkürzt den Besuch. Luisa und Paolo erreichen wegen eines Unfalles die Fähre nicht und müssen mitsamt Nitti im maroden Gästehaus, dem Glaspalast, übernachten. Dort kommen diese so unterschiedlichen Menschen ins Gespräch, teilen Gefühle, spenden einander Trost. Auf der Rückreise buchen Paolo und Luisa eine Doppelkabine.

Was mir besonders gefiel, in Kürze: Die präzise Recherche, die u.a. mit dem historischen Hintergrund, dem Gefängnisleben, der schweren Arbeit einer Bäuerin vertraut macht. Die poetische Beschreibung der Natur, des Meeres, für die Melandri wunderbare Bilder findet. Und dann die einfühlsame, detailreiche und vorurteilsfreie Darstellung der Charaktere, die uns mitleiden lässt. Und nicht zuletzt die treffenden, manchmal gewagten Vergleiche.

Und einiges mehr… Es geht nicht anders, Sie müssen es einfach lesen! Oder verschenken.

Francesca Melandri: Über Meereshöhe, Roman. Wagenbach Taschenbuch 812, 6. Auflage 2021, 208 S., 14 Euro

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