Aufständische Ordnung

Die Poetik des Widerstands: René Chars „Feuillets d’Hypnos“ – von Daniele Dell’Agli.

„Unserer Erbschaft geht keinerlei Testament voraus“, stellt der Dichter René Char 1943 lapidar fest, zu einem Zeitpunkt also, da er zum bewaffneten Kampf gegen deutsche Okkupanten und französische Kollaborateure in den Maquis untergetaucht war. Man kann diesen Satz als Entlastungsformel missverstehen: So oder ähnlich hat manche Avantgarde ihre Liquidierung der Tradition und den euphorischen Aufbruch in eine von allen realgeschichtlichen Konflikten gereinigte, nur noch ihre Selbstreferenz zelebrierende Kunst gerechtfertigt. Dass ausgerechnet ein als hermetisch geltender Autor wie Char sich bei genauerer Lektüre als die profilierteste Gegenposition zu dieser – gegen ihr ursprüngliches Selbstverständnis als „Manifest“ – wohlfeil chronifizierten Haltung erweist, macht seine ungebrochene Aktualität aus. „Unserer Erbschaft geht keinerlei Testament voraus“: Nichts wurde verfügt oder beglaubigt, kein letzter Wille diktiert – wessen auch? –, kein Erbe designiert. Nichts gab es zu vollstrecken, denn nur, wenn sich niemand fände, die Hinterlassenschaft anzutreten, wäre „alles für immer zu Ende.“ Die Erbschaft, der kein Testament vorgeschrieben wurde, wird selbst zum Testament: „Häufe, dann teile aus. Sei im Spiegel des Alls die dichteste Stelle, die nützlichste und die unauffälligste.“ Eine präzise Aufgabe, nicht für Nachlassverwalter: für Dichter-Partisanen.

Der Partisan kämpft bekanntlich autochton und irregulär. Autochton: er bewegt sich auf vertrautem Terrain, auf ,seinem‘ Terrain, könnte man sagen, wäre er nicht angetreten, es gegen jeden Versuch der Inbesitznahme zu verteidigen; gehörte nicht umgekehrt er dem Raum an, den er entdeckt, indem er ihn erkundet: den er für sich gewinnt, indem er ihn von der Okkupation befreit. Irregulär: die Wege des Partisanen sind so unberechenbar wie seine Rhythmen; er operiert, auch wenn seine Liebe ganz mediterran dem Tag gehört – „Klarsicht“, sagt er, „ist die sonnennächste Wunde“ – im Dunkeln, mit überraschenden Aktionen, die es plötzlich durchdringen. Der Blitz, der Himmel und Erde verbindet, „der uns bald erleuchtet, bald spaltet“, ist ihm Wahrzeichen und Augenblicksgestalt.-

René Chars „Feuillets d’Hypnos“ sind 1943-44 während seiner Tätigkeit als Leiter einer Widerstandsgruppe im südfranzösischen Untergrund entstanden. „Diese Aufzeichnungen markieren den Widerstand eines Humanismus…, der das Unbetretene als Spielraum freihalten möchte für die Phantasie seiner Sonnen…“. Ungeachtet dieser Warnung vor einer historisch-poetisch verkürzten Wahrnehmung seiner Texte ist es üblich geworden, Chars Aphorismensammlung der Literatur der Résistance zuzuordnen und somit das poetisch Subversive seines Widerstands (von „résistance“ ist bereits im allerersten 1929 veröffent-lichten Gedicht aus dem Arsenal die Rede!) zu entschärfen. Weit davon entfernt, den Einfluss der Ereignisse auf das Zustandekommen seiner Notizen zu leugnen, gilt für den Dichter, dass „die durch das Bild gesehene Zeit … eine aus den Augen verlorene Zeit“ ist. Denn die Zeit der Niederschrift war stets die knappe Frist zwischen einer Kampfhandlung und der nächsten gewesen. Was derart den Umständen abgetrotzt wurde, musste als Zeugnis des Entronnenseins wie des sich regenerierenden Willens zur Selbstbehauptung seine eigenen Gesetze etablieren: die einer Zeit der Unverwundbarkeit („Die Finsternis des Worts macht mich unempfindlich und immun.“) und eines Raums der Freiheit, „Enklave der Unvorhersehbarkeiten und der Metamorphosen, die es zu verteidigen und aufrechtzuerhalten gilt.“ In diesen Intervallen des Schreibens holt sich einer das Leben und den „zweiten Atem“ der Imagination zurück, um nicht zuzulassen, dass der Terror und sein Schatten, die Angst, die Sprache dessen besetzen, wofür es sich zu kämpfen lohnt und woher wiederum einzig die Kraft der Hoffnung und des Widerstands (denn „Widerstand ist nichts als Hoffnung“) kommt. Darum heißt jenes Tableau, das vielleicht am eindrücklichsten „den erregenden Zauber der Wesen und Dinge, mit denen wir aufs engste zusammenleben“ evoziert, „contre-terreur“ (Nr. 14i). Nicht Gegenterror also, sondern „jenes kleine Tal, das sich nach und nach mit Nebel füllt“; oder „jener winzige Morgen mit seinen uns unbekannten Absichten…“ als das kraft seiner puren Faktizität den Schrecken Abwehrende, mit einem Wort: Schönheit.

Apotropaia, das sind Chars Miniaturen allerdings auch im Sinn einer Grenzziehung nach innen: Abwehr des Rauschhaften, das mit der Überschreitung der Tötungshemmung lockt. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade dieser Dichter, der die reale Auslöschung anderer verantworten musste, für ein literarisches Ethos steht, das sich unablässig des Anderen der Sprache vergewissert: der Realität, der Natur, des Lebens – all dessen also, worauf sich die Worte beziehen, ohne es selbst zu sein; dessen Existenz sie andererseits bezeugen, indem sie es erscheinen lassen, und ohne welches ihr Bezug untereinander so mechanisch wie beliebig und spannungslos bleibt. Ohne Kompromiss wenden sich Chars Texte von der schon zu Zeiten seiner surrealistischen Jugendgefährten zur Sprachspielerei verabsolutierten Selbstbezüglichkeit nicht minder ab wie vom „bunten Gerede des An-/erlebten“, dem „hundert-/züngigen Mein-/Gedicht“ (Paul Celan).-

Während diese herrschenden Spielarten des Gedichts als „Genicht“ jede auf ihre Weise den Widerstand des Realen beim Schreiben zu ignorieren wissen – und durch nichts sonst erklärt sich die hemmungslose Produktivität vieler schreibender Zeitgenossen – rührt die insulare Schroffheit der Fragmente Chars von dem Anspruch her, die auseinanderstrebenden Momente – sprachliche Eigendynamik und mimetisches Kraftfeld –

zusammenzuhalten. An jedem seiner Wort-„Archipele“ lässt sich nachvollziehen, welcher Widerstand am Nichts des leeren Blattes überwunden werden muss, damit die Aufzeichnung einer unvorhersehbaren Konstellation zur Einschreibung in die Haut eines imaginären Körpers wird, dessen Landschaft das „Unbekannte“ zugleich konturiert und offenhält: „Das Gewebe des Gedichts muss ebenso viele versteckte Durchgänge und Harmoniekammern aufweisen als Elemente des Künftigen, sonnenüberglänzte Länden, verfängliche Bahnen und einander anrufende Existierende. All das wird vorn Dichter übergesetzt, all das bildet eine Ordnung. Und zwar eine aufständische.“ (Aus: „Einer harschen Heiterkeit“)

„Aufständische Ordnung“ bezeichnet genau die Paradoxie in Chars Vision: einerseits geht er aufs Ganze einer unteilbaren Erfahrung der Einheit von Bild und Gedanke, Innen und Außen, Sprache und Realität, sammelt unterwegs „die zerstreuten Kostbarkeiten ein“ und nähert sich „jener Linie, wo sich die Dinge ineinanderfügen.“ Aber weil es das Unbekannte oder, wie Maurice Blanchot sagt, „die Abwesenheit (ist), auf die er sich zu bewegt, um mit ihr die ganze Realität wiederherzustellen“, wird die restitutio in integrum zum „Rätseldienst“, zur Wiederherstellung einer natürlichen Unlesbarkeit der Dinge. So zerreißen die Verse dieser Dichtung den Schein der „gedeuteten Welt“ (Rilke), um sie in der erratischen Schönheit ihrer vollkommenen, das heißt für Char: ihrer „ungeschaffenen“ Gestalt aufblitzen zu lassen. Partisan, Parteigänger fürs Unteilbare bleibt der Dichter, der sich weigert, das Leben von der Kunst zu trennen, ohne deren Grenzen willkürlich wegzuhalluzinieren. „Die Wahrheit: der Dichter sagt sie nicht, er lebt sie. Und wird, indem er sie lebt, unwahr.“ Dichter, „Magier der Unsicherheit“, bleibt der Partisan, der sich Hypnos nannte: Führer im Dunkeln, durch Regionen, zu denen selbst Hermes keinen Zugang hat. Was davon bezeugt, widersteht auch in dem äußersten Sinne jeder hermeneutischen Vereinnahmung, dass es ihrer nicht bedarf, um verstanden zu werden; dass es gar nicht verstanden zu werden braucht, um seine Magie zu entfalten. Denn „die reinsten Ernten gehen aus einem Samen auf, der in einen Boden gesenkt wurde, den es nicht gibt.“

René Char: Feuillets d’Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis 1943-1944. Fischer Verlag 1990, 144 Seiten (vergriffen, nur noch antiquarisch erhältlich)

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