Sommer in der Apfellaube

Ingrid Rosenberg-Harbaum über Laurie Lee: Cider mit Rosie

Als der 31jährige repatriierte Kosmopolit Laurie Lee Ende 1945 für die Literaturzeitschrift Orion über seine Kindheit in dem englischen Dörfchen Slad schreibt, legt er mit diesen Seiten den Grundstein für seinen literarischen Ruhm als Dichter der Gloustershire Cotswolds. Im Spanischen Bürgerkrieg hatte er sich zu den Internationalen Brigaden bekannt, war wie Cecil Day-Lewis Mitglied der Kommunistischen Partei und beide waren während des 2. Weltkriegs im Britischen Nachrichtendienst eingesetzt. Als Mitherausgeber der Zeitschrift zahlt ihm der spätere Poeta laureatus 12 Guineas Zeilenhonorar und drängte ihn mit Rosamond Lehmann zu noch mehr autobiografischer Prosa. Mit der inneren Gewissheit, der verkannteste Dichter seiner Generation zu sein und mit argen Zweifeln am Erfolg seines Unterfangens verfasst Laurie Lee in den folgenden Jahrzehnten drei autobiografische Romane, alle drei Bestseller der angelsächsischen Nachkriegsliteratur. Teile des ersten Bandes der Trilogie, seine Kindheitserinnerungen, veröffentlicht er sukzessive bevor sie in Gänze mit dem Titel „Cider With Rosie“ im November 1959 als Erstausgabe in London erscheinen. Bis Ende des Jahres ist die dritte Auflage der Hogarth Press vergriffen. 40 Jahre später sollten sich in oft reichhaltig bebilderten Ausgaben weltweit mehr als sechs Millionen Exemplare verkauft haben.

1964 erscheint das Buch mit dem Titel „Des Sommers ganze Fülle“ erstmalig in Deutsch. Mit Aquarellen der britischen Künstlerin Laura Stoddart legte der Bilgerverlag, Zürich, zum 100. Geburtstag des Autors 2014 eine beeindruckend rhythmisierte Neuübersetzung von Pociao und Walter Hartmann vor. Alle, die ländliches Leben in Kontakt mit wilder Natur von klein auf kennen, mögen sich von den poetisch verträumten Schilderungen angesprochen fühlen; alle anderen vermag das Buch vielleicht sogar neidisch zu stimmen. Laurie Lee imaginiert seine Kindheit als glückselig, denn nach dem 1. Weltkrieg sind die Menschen arm im Slad Valley. Der Vater hatte sich 1917 nach London abgesetzt, als der Dreijährige mit seiner Mutter und einer Schar Geschwister und Halbgeschwister im frühsommerlichen Dorf ankommt. Im angemieteten Bauernhaus fühlt sich das Nesthäkchen rasch heimisch, wird aber bald vom neugeborenen Brüderchen aus dem weichen, warmen Bett der Mutter vertrieben und hat fortan mit Hilfe und Trost der Geschwister seinen Platz in der Familie und der ländlichen Gemeinschaft schrulliger, skurriler Einheimischer zu behaupten. In der Dorfschule macht er erste Erfahrungen mit Autorität, wie sie Lehrer und Lehrerinnen verkörpern, und Furore mit Aufsätzen über die Lebensgewohnheiten von Fischottern ohne jemals einen lebenden Otter in freier Wildbahn gesehen zu haben. Daheim zeichnet er, lernt Geige spielen und in der Apfellaube die Liebe kennen.

Laurie Lee: Cider mit Rosie. Aus dem Englischen von Pociao und Walter Hartmann. Mit dreizehn Aquarellen von Laura Stoddart. Unionsverlag 2018, 305 Seiten, 19 Euro (Hardcover), 14,95 Euro (TB)

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