Soll man „Krieg und Frieden lesen“?

Andreas Gebhardt über Tolstois Klassiker.

Neulich veröffentlichte DIE ZEIT mal wieder einer dieser fragwürdigen Bücherlisten, mit Werken, die man unbedingt gelesen haben sollte, die Betonung liegt auf „sollte“: Diesmal 10 Klassiker. Da wurde Thomas Mann gleich zweimal genannt („Die Buddenbrooks“, „Der Zauberberg“), dann Dostojewski („Schuld und Sühne“) oder George Orwell („1984“). Und zweimal Lew Tolstoi, nämlich „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“. Warum SOLL man das alles eigentlich lesen? Ist ein Leben nicht schön, wenn man sie nicht gelesen hat?

Tatsächlich habe ich gerade „Krieg und Frieden“ geschafft. Die rund 1600 Seiten waren ein sportlicher Marathon. Kann ich das Buch, bzw. die zwei dicken Bände empfehlen? Sagen wir so: Mir hat das Epos gefallen, empfehlen würde ich es nicht unbedingt, jedenfalls nicht jedem. Wer könnte sich heute dafür interessieren? Es müsste jemand sein, der sich mit den Napoleonischen Kriegen, insbesondere mit dem verheerenden Russlandfeldzug anno 1812, beschäftigen möchte, jemand der sich überhaupt für die Geschichte und die Lebensumstände des frühen 19. Jahrhunderts interessiert und in eine Welt eintauchen möchte, die uns Heutigen fremd erscheint. Literaturhistorisch ist interessant, wie Tolstoi ein riesiges Figurenarsenal gestaltet, entwickelt und miteinander in Beziehung setzt und die komplexe Geschichte vorantreibt. Wie er verschiedene Handlungsstränge verfolgt, wie er collagiert und montiert, ausschweifend erzählt und doziert, ja doziert, und das nicht zu knapp. Immer wieder reflektiert er über den Krieg, denkt über Feldzugsstrategien nach, widerlegt Historiker seiner Zeit usw. Ich fand’s interessant, vielen wird bei diesen unvermittelten und langatmigen Passagen aber die Lust vergehen. Spannung? Ja auch.

Man kann bei „Krieg und Frieden“ auch schön studieren, wie die Romankunst des 19. Jahrhunderts auf den Film gewirkt hat. All diese Netflix-Serien adaptieren ja die Erzählweisen der alten Großromane. Die wohl beste Verfilmung von „Krieg und Frieden“ entstand 1965-1967 in der Sowjetunion. Sie stammt von Sergej Bondartschuk, dauert mehr als sieben Stunden und ist heute vielleicht ebenso zwiespältig anzuschauen wie das Buch zu lesen ist. Denn auch für diese Verfilmung, es ist nicht die einzige, braucht man Durchhaltevermögen.

Das Ende des Romans ist – gelinde gesagt – ziemlich offen und unvermittelt. Ich glaube, Tolstoi hatte einfach keine Lust mehr. Kurzum: SOLLTE man „Krieg und Frieden“ lesen? Das finde jeder selbst heraus. P.S.: Ich habe „Krieg und Frieden“ in der Übersetzung von Werner Bergengruen gelesen (vergriffene DDR-Ausgabe des Aufbau-Verlags). Die aktuellste Ausgabe ist die hochgelobte von Barbara Conrad, erschienen bei Hanser.

Nach oben scrollen