Mehr Snowden als Assange?

Benjamin Quaderers Hochstaplerroman „Für immer die Alpen“, besprochen von Helen MacCormac.

2020 hätte Benjamin Quaderers Jahr sein sollen aber, Corona hat ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. „Nach Erfahrungsstand jetzt rate ich tendenziell eher davon ab, einen Debütroman in eine Pandemie hineinzuveröffentlichen“, schreibt der 1989 in Osterreich geborene und in Liechtenstein aufgewachsene Autor auf seiner Facebook-Seite. Die Lesereise um die halbe Welt von Schaan bis New York? Fehlanzeige. Die ins Netz verlegten Veranstaltungen? Eher dürftig. Das ist in diesem Fall besonders schade, weil Quaderers im Vorfeld hochgelobtes Erstlingswerk das Zeug zum Bestseller hat.

Johann Kaiser heißt der unbelehrbare Held von „Für immer die Alpen“ bevor er zum ersten Mal die Identität wechselt. Der gebürtige Liechtensteiner blickt aus einem Zeugenschutzprogramm heraus auf sein Leben und sein Land zurück. Mit seinen Aufzeichnungen möchte er uns sehr gerne überzeugen, dass er keine Wahl hatte, als er die geklauten Bankdaten des Fürstentums an den BND verkaufte. Auf keinen Fall will er aus niederen Gründen gehandelt haben – er sei mehr Snowden als Assange, meint er und holt weit aus.

Die Stationen seiner missratenen Kindheit sind so tragisch wie lustig, und werden mit einer Leichtigkeit erzählt, die das Leserherz vor Freude hüpfen lässt. Klein-Johann hat eine besondere Sicht der Dinge. Obwohl man ihm eigentlich kein Wort glaubt, beobachtet man mit größtem Vergnügen, wie er sich mit Mogeln, Fabulieren, Täuschen und Verfälschen vom Heimkind in die Welt der Reichen und Schönen hochstapelt. Das ändert sich allerdings in der zweiten Hälfte des Buches, als die Stimmung düster wird und Johanns Geschichten sich scheinbar ins Absurde steigern. Mit akribischen Fußnoten, gespickt mit Zitaten und Querverweisen, versucht er sein Handeln zu rechtfertigen und zu belegen. Das Verwirrspiel ist spätestens dann perfekt, als man mit Erstaunen feststellt, dass es ein reales Vorbild für Johann Kaiser gibt: den Liechtensteiner Datendieb Heinrich Kieber, dessen Buch „Der Fürst. Der Dieb. Die Daten“ dem Autor als Vorlage diente.

Benjamin Quaderer, der am Hildesheimer Literaturinstitut sein Handwerk gelernt hat, greift tief in die literarische Trickkiste, um seinen Roman zu Ende zu bringen. Geschwärzte Textstellen, parallellaufende Berichte rot gedruckt, ausufernde Erzählstränge, die nur in den Fußnoten zu finden sind – das ist alles nicht neu und verlangt dem Leser einiges ab. Wer sich aber nicht abschrecken lässt, erlebt eine wahnwitzige Achterbahnfahrt über die Gipfel und Täler Liechtensteins von ungeahntem Ausmaß.

Ob „Für immer die Alpen“ doch noch ein Bestseller wird, bleibt abzuwarten. Eine ideale Sommerlektüre ist das Buch allemal. Mit 592 Seiten wird man kein zweites brauchen.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Luchterhand, 592 Seiten, 22 Euro

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