Kosmopolitische Dreiecksbeziehung

Andreas Gebhardt über Orlando Figes‘ brillante Studie „Die Europäer“.

Zwei Wochen vor seinem Tod verfasste der russische Dichter Iwan S. Turgenew (1818-1883) eilig eine Kurzgeschichte mit dem französischen Titel „Un Fin“. Von Krankheit geschwächt diktierte er sie seiner Lebensfreundin und Geliebten, der aus Spanien stammenden Operndiva Pauline Viardot, und zwar in den sechs Sprachen, die sie beide beherrschten: Französisch, Deutsch, Spanisch, Englisch, Italienisch und russisch. Viardot (1821-1910) übersetzte den multilingualen Text zuletzt ins Französische und Turgenew konnte ihn noch für die Veröffentlichung freigeben. Orlando Figes sieht darin „ein passendes Symbol für die kosmopolitische Kultur, die sie beide ihr ganzes Leben lang gefördert hatten.“

Der mit exzellenten Werken zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion hervorgetretene britische Historiker schildert, wie Viardot und Turgenew das Weltbürgertum im 19. Jahrhundert exemplarisch verkörperten, indem sie ein verzweigtes internationales Netz aus Künstlern aller Sparten, Verlegern, Kritikern usw. knüpften und dazu beitrugen, ein europäisches Kulturbewusstsein auszubilden. Er beschreibt nicht nur detailliert die Entstehung des populären Opernkults an dem die Viardot maßgeblich beteiligt war, sondern auch die damit einhergehende Entwicklung des privaten und öffentlichen Musik- und Konzertwesens und wie zugleich die weitere Ausprägung des Literatur- und Kunstbetriebs dazu führte, eine kulturelle Identität im Sinne eines internationalen Kanons entstehen zu lassen. Ein Motor war die Industrialisierung, z. B. die Verbesserung der Drucktechniken, aber vor allem der Ausbau des Eisenbahnnetzes. Die steigende Mobilität ermöglichte, rasch zwischen den Metropolen zu reisen, Opernpremieren oder die Weltausstellungen in London und Paris zu besuchen und unterwegs Taschenbücher zu lesen, die an Bahnhofskiosken verkauft wurden.

Figes stellt Pauline Viardot, ihren Mann, den republikanischen Schriftsteller und Mäzen Louis Viardot (1800–1883), und Turgenew in den Mittelpunkt dieser hochspannenden Gemengelage. Turgenew verliebte sich 1843 unsterblich in die Sopranistin und gemeinsam bildeten sie eine mehr oder weniger offene Ménage-á-trois. Zusammen lebten sie in den Jahrzehnten ihrer Freundschaft in Frankreich, Deutschland und England und bereisten ganz Europa – auch das ein Ausdruck ihrer selbstverständlichen Weltgewandtheit. Was in zahllosen Studien für sich behandelt wurde, führt Figes anhand dieser drei Biografien faszinierend zusammen, wobei er es meisterhaft versteht, die komplizierten Gemengelagen, Prozesse und Wechselwirkungen fundiert und doch anregend und unterhaltsam zu schildern. In Zeiten kulturellen Kahlschlags erinnert das Buch jedenfalls daran, dass es letztlich die Kultur ist, die die Gesellschaft zusammenhält. Das sollte nicht vergessen werden.

Orlando Figes: Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung einer europäischen Kultur. Hanser Berlin, 640 Seiten, 34 Euro.

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