Knapp über Mittelmaß

„Wenn die Gondeln Trauer tragen“, Erzählungen von Daphne Du Maurier, besprochen von Simon Bethge

Vor einiger Zeit, ich weiß nicht genau, wie lange es her ist, aber damals muss mein Lesen mehr einer spaßvollen Beschäftigung als einer Zwangsläufigkeit geglichen haben, fing ich an, jedes Buch, das ich beendete, nach vier einfachen Kategorien zu bewerten. Wenn die letzte Seite ausgelesen war, nahm (und nehme) ich mir ein Post-It, schreibe darauf „Sprache“, „Dramaturgie“, „Botschaft“ und — unter einem Trennstrich — „Intensität“. Jede Kategorie wird mit maximal zehn Punkten versehen, woraus sich eine Bestwertung von 40 ergibt. Der Band, dem zuletzt dieses Schicksal zuteil wurde, ist „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ der britischen Autorin Daphne Du Maurier (1907-1989) und bringt es auf insgesamt 23 Punkte. Knapp über dem Mittelmaß also, schade eigentlich. Wie ich dieses Ergebnis rechtfertige? Kläglich, aber fest. Und damit, dass ich „nur“ eine Übersetzung vorliegen hatte.

In Sachen Sprache: Du Maurier legt einen geschliffenen, leicht zugänglichen und an einigen Stellen überraschenden Stil an den Tag. Zwar scheint sie in Teilen lieber mehr als exakte Worte zu benutzen, um ihren (damals, 1971) abstrus anmutenden Ideen einen würdigen Rahmen zu geben. Aber selbst diese Passagen sind eindringlich und bescheiden elegant (6/10).

In Sachen Dramaturgie: Das Problem bei einem Erzählband ist, dass man seine Bestandteile nicht als thematisch, aber gezwungenermaßen textuell aufeinanderfolgend begreifen muss. Klar kann man querlesen — habe ich auch. Doch die vorliegende Anordnung der Geschichten bestimmt ihre Wirkung. Du Maurier beschäftigt sich in vier, zwischen zwanzig und achtzig Seiten langen Stories mit der Versuchung, dem Zerbrechen, der Wollen-Sollen-Diskrepanz und der schleichenden Fremdwerdung. Alltägliches also, und Allgültiges (6/10).

In Sachen Botschaft: Altbackene Ansichten und Charakterkonstellationen? Geschenkt. Ist nun einmal fast 50, das gute Stück – ein Buch am Beginn seiner Midlifecrisis. Was ich gelernt habe? Dass die Mehrheit der Menschen schon früher eher Schattenrissen glichen als dem real thing (5/10).

In Sachen Intensität: Daran anknüpfend und zusammenfassend bietet „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ ambige, wenn nicht gar unheimliche Beobachtungen. Atmosphärisch dicht, das schon, aber nichts, das sich nicht auch bei jüngeren und frischeren Autorinnen und Autoren finden ließe (6/10).

Daphne Du Maurier, Wenn die Gondeln Trauer tragen. Erzählungen. 251 Seiten, Heyne-Verlag 1990 (diese Ausgabe nur noch antiquarisch).

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