Im MERZbau der Sprache

Ulrike Draesners Roman „Schwitters“, vorgestellt von Andreas Gebhardt.

In meiner späten Jugend war ich glühender Schwitters-Fan, das kam so: In einer Anthologie las ich seine Groteske „Auguste“ Bolte. Dann entdeckte ich sein berühmtestes Gedicht und es war um mich geschehen: „Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir…“. Ich wollte sofort sein fünfbändiges Gesamtwerk haben, es war leider unbezahlbar, also entlieh ich es und tippte viele seiner Lautgedichte, Wort- und Sprachspiele mit der Schreibmaschine ab. Der frühe Kurt Schwitters der MERZ-Künstler, der Dadaist, der keiner sein wollte, der Sprachartist und Werbegrafiker, ist gut erforscht, vom späten weiß man eher weniger.

Das ist jetzt anders, nicht zuletzt dank Ulrike Draesners Roman. Sie wirft Schlaglichter auf sein spätes Leben. Schwitters war 49 Jahre, als er Anfang 1937 seine Heimatstadt Hannover verließ. Kunst oder Leben: das waren die Alternativen, die Nazis hatten ihn längst im Visier. Er ging mit seinem Sohn Ernst nach Norwegen, seine Frau Helma blieb in Hannover, wo eine Fliegerbombe sein Hauptwerk, den MERZbau, in Schutt und Asche legte. Von dort emigrierten er mit Ernst und dessen Freundin nach England. Zunächst lebte er in Lagern, dann in London, wo er sich in Edith Thomas, genannt „Wantee“, verliebte. Das Liebespaar übersiedelte 1945 aufs Land, nach Ambleside im Lake District. Hier arbeitete er manisch am MERZbarn, seiner zweiten begehbaren Plastik. 1948 starb Schwitters, schwer krank und entkräftet in Ambleside. Soweit einige äußere Daten.

Draesner gelingt das Kunststück, diesen späten Lebensabschnitt kunstvoll gestaltend zu erzählen, chronologisch zwar, aber stets schlaglichtartig collagierend. Die Materiallage ist ja dünn. Es existieren einige wenige Fotografien, im Exil verfasste er manchen Text auf Norwegisch und Englisch. Er musste sich verwandeln, die fremden Sprachen erschließen, sich aneignen und in diesen neu denken lernen. Draesner schildert das auf faszinierende Weise von „innen“ heraus, macht Schwitters Denken, seine Sprach-Kunst begreif- und nachvollziehbar. In Anlehnung an Arno Schmidt könnte man ihre Methode „längeres Gedankenspiel“ nennen. Und wie Schwitters spielt auch Draesner mit der Sprache, verdichtet, dehnt, assoziiert, kombiniert, collagiert und lauscht ihr genau. Sie, die ja auch eine Wanderin zwischen Deutsch und Englisch ist, klopft die Sprach(e)n auf ihre Bedeutungen ab, geht ihr (ihnen) auf den Grund, knetet sie unermüdlich. Schwitters tritt durch Draesners Sprachkunst aus dem Dunkel heraus und gewinnt Kontur. Ja, so könnte er gewesen sein, der „Körrt“. Aber vielleicht auch very different.

Am 10. November 2022 liest Ulrike Draesner auf Einladung des Literaturhaus Nordhessen im Staatstheater Kassel: www.literaturhaus-nordhessen.de

Ulrike Draesner: Kurt Schwitters. Roman, Penguin-Verlag, 475 Seiten, 12 Euro.

Nach oben scrollen