Die unwiderstehliche Komik des Schlagerls

Jürgen Röhling über Joachim Meyerhoffs „Hamster im hinteren Stromgebiet“.

Er hat die Toten hochfliegen lassen und selbst damit die Bestsellerlisten gestürmt: Joachim Meyerhoffs vier autobiographische Romane waren die überragenden Bucherfolge der letzten Jahre. Ein Schauspieler erzählt von seiner schwierigen und schönen Kindheit als Sohn eines Psychiaters, vom Aufwachsen inmitten einer großen psychiatrischen Klinik, und er erzählt von den Traumata und Tragödien seines Lebens: der Bruder kam bei einem Autounfall ums Leben, der Vater starb an Krebs, die betagten Großeltern, bei denen er in einer wichtigen Zeit seines Lebens wohnte, gingen kurz hintereinander. Ursprünglich schrieb Meyerhoff die Geschichten fürs Wiener Burgtheater, wo er auch als Schauspieler groß rauskam, die vier Romane entstanden danach. Doch dann, mit 51 Jahren, kurz nach Erscheinen des vierten Romans „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“, der der letzte sein sollte, kam der Schlaganfall, das Schlagerl, wie die Wiener sagen, und Meyerhoff wäre fast selbst von dieser Welt geflogen. Doch nur fast, Meyerhoff überlebte und begann sofort zu schreiben. Und so bekam die Roman-Tetralogie einen fünften Teil, der vom Erleben und dem Überleben dieser Krankheit erzählt.

Joachim Meyerhoffs Erzählstil ist einzigartig. Man liebt ihn oder eben nicht, wobei die Verkaufszahlen den Schluss zulassen, dass man ihn eher liebt. Sein Humor durchdringt jede Lebenssituation, seine Fähigkeit, die skurrilsten Nebensächlichkeiten zu sehen, macht noch die traurigsten Schicksalsschläge – nein, nicht einfach erträglich, das wäre zu banal, sondern sortieren sie ins Leben ein, in diese unerklärliche Abfolge unverständlicher Dinge.

Diesem schrägen Blick ist Meyerhoff auch im neuen Roman treu geblieben. Der Schlaganfall hat offenbar nicht die Sprache beeinträchtigt. Während der Patient auf den Krankentransport wartet, schießen ihm alle möglichen Erinnerungen und Beobachtungen durch den Kopf. Die Zunge fühlt sich rau an, und schon ist die Kindheitserinnerung an die raue Zunge eines Kalbes da, in dessen Maul er einst die Hand gesteckt hatte und die nicht mehr losgelassen wurde, bis die Mutter energisch eingriff. „Warum dachte ich ausgerechnet jetzt an banale Kindergeschichten?“, denkt Meyerhoff, schreibt Meyerhoff – und von solchen Erinnerungen lebt das Buch. Von skurrilen, banalen, schrägen, manchmal schmerzhaft peinlichen Geschichten. Man weiß nie, was als nächstes kommt, während er auf die Visite wartet oder im Krankenhaushinterhof einen Spaziergang wagt.

Dort könnte man zum Beispiel die Erklärung des seltsamen Romantitels finden. Das hintere Stromgebiet ist die betroffene Hirnregion, wie er vom sachlichen Arzt weiß. Die Hamster sieht er beim Spaziergang, sie unterhöhlen das Krankenhausgelände. Oder sind sie nur eine Folge des Schlaganfalls? Solche Fragen werden wichtiger als vermeintlich wichtigere, letztlich aber müßige wie die nach dem „Warum“ eines Schlaganfalls, eines Autounfalls, einer Krankheit.

Meyerhoff bezieht das Material seiner Romane zunächst aus Leid, Krankheit und Tod. Erträglich, ja spaßig, unterhaltsam und gewinnbringend wird es dadurch, dass er nicht nach dem Sinn dahinter fragt, sondern nach dem Unsinn, der hinter all dem steckt. Aber anders als die Vorgängerromane ist „Hamster“ dicht, sehr dicht an der Gegenwart dran, und so ist der Roman auch ein Liebesroman geworden, eine Liebeserklärung an die Partnerin und an seine Kinder, die ihm nach dem Schlaganfall ins Leben zurückhelfen. Auch die Hamster werden erst dadurch zu echten Hamstern, dass auch die Tochter sie sieht. Die schrägsten Geschichten werden dadurch lebendig, dass sie Publikum finden. Meyerhoff hat seins gefunden, auf der Bühne und als Buchautor.

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet. Kiepenheuer & Witsch 2020. 307 Seiten, 24 €

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