Der kentaurische Pakt

Ulrich Raulff „Das letzte Jahrhundert der Pferde“, besprochen von Andreas Gebhardt.

6000 Jahre war das Pferd ein ständiger Begleiter des Menschen. Nur wenig mehr als 100 Jahre hat es gedauert, um beide voneinander zu lösen. Ulrich Raulff Feuilletonredakteur bei FAZ und Süddeutscher Zeitung und dann, von 2004 bis 2018, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, schildert diese komplexe „Geschichte einer Trennung“– so der Untertitel seiner famosen Studie. Sein Buch ist viel mehr als das, geht es doch um die hochspannende und erhellende Kulturgeschichte des Bündnisses von Mensch und Pferd. Raulff nennt es den „kentaurischen Pakt“, der im Maschinenzeitalter jäh endete. Der Mensch hatte sich das „Fluchttier“ Pferd untertan gemacht. Er züchtete es, richtete es ab, setzte es für seine Zwecke ein – als Fortbewegungsmittel, Kraft-, Renn- und Lasttiertier. Er erforschte und optimierte es oder benutzte es als Symbol, etwa um Herrscher auf Gemälden und Denkmälern pathetisch zu inszenieren. Nicht zuletzt geht es um Wissenschaft und Literatur, die voll sind von Pferdemotiven und -geschichten. Raulff, der seine Studie 2015 bei uns, im Literaturhaus Nordhessen, vorstellte, geht nicht erwartbar chronologisch vor. Er macht vielmehr diachrone Schnitte entlang der Themenlinien „Energie“, „Wissen“, „Pathos“ und „Historie“.

Können wir uns vorstellen, dass um 1880 rund 80.000 Pferde in Paris lebten und arbeiteten und in London gegen Ende des 19. Jahrhunderts sogar 300.000? Diese mussten versorgt werden mit tausenden Tonnen Hafer und sie verschmutzen die Straßen mit Strömen Urins und unvorstellbaren Mengen an Mist. Sie verursachten schwerste Unfälle mit Toten und schwersten Verletzungen. Nicht Mord und Totschlag machten die Städte gefährlich, sondern Fuhrwerke und durchgehende Pferde. Paradox, dass im Trennungsjahrhundert der Pferdeverschleiß höher war als jemals zuvor. Allein im ersten Weltkrieg kamen wohl 9 Millionen Rosse auf den Schlachtfeldern ums Leben. Kulturgeschichte aus der Perspektive der Pferdegeschichte: Man könnte all das, was Raulff kenntnisreich und stilistisch elegant ausbreitet, als nutzloses Wissen bezeichnen. Na und? Bücher wie diese erweitern den Horizont und erhellen den Geist aufs Schönste. Erstaunlich nur, dass Raulff auf einen Aspekt der Pferd-Mensch-Beziehung so gut wie gar nicht eingeht: Das Pferd als Wurst und Braten. Sollte dieser Aspekt des Pakts auf einem anderen Teller liegen?

Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung. C.H. Beck 2015, 461 S., 29,95 Euro.

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