Die Bilder. Die Farben. Die Bewegungen. Die Erinnerungen.

Reinhard Ardelt über Mariam Kühsel-Hussainis Roman „Tschudi“

Die Stadt Berlin und die Zeit von 1896 bis 1911 bilden den Rahmen dieses impressionistischen Gemäldes von einem Roman. 1896 wurde der Schweizer Hugo von Tschudi Direktor der Berliner Nationalgalerie und begann mit den aufsehenerregenden und umstrittenen Ankäufen von französischen Impressionisten. 1908 wurde er infolge der „Tschudi-Affäre“ beurlaubt. 1911 starb er.

Die Persönlichkeit Tschudis wird als charismatisch und dominant beschrieben, neben ihr wirken viele der anderen auftretenden historischen Figuren aus der politischen und künstlerischen Elite Berlins schwach. Einige seiner Künstlerfreunde sind ihm gewachsen, das Buch entwirft „im Vorbeigehen“ Skizzen, zum Beispiel von Max Liebermann und Auguste Rodin. Den Gegenpol und die zweite Hauptfigur stellt Kaiser Wilhelm II. dar, schwankend zwischen Beratern und Intriganten und bar jeden Kunstverständnisses. In seinem Umgang mit Tschudi und der Nationalgalerie unterliegt das Streben nach internationalem Renommee immer wieder dem Wunsch nach konservativ-patriotischer Selbstbeweihräucherung. Gemeinsam ist beiden Protagonisten die Anfechtung bis hin zu Phasen der Verzweiflung durch ihre körperliche Entstellung: Tschudis chronische Hautkrankheit, Wilhelms verkrüppelter Arm.

Mariam Kühsel-Hussainis poetische Sprache will langsam und genüsslich gelesen werden. Unterschiedliche Textgestaltungen wechseln sich ab: erzählende Kapitel treiben die Handlung voran, beschreibende Passagen geben sich der Begeisterung über das Farbenspiel der zeitgenössischen Gemälde ebenso wie der Berliner Stadtlandschaft hin. Originalzitate aus Tschudis Publikationen und Briefwechseln sind geschickt eingebunden und zeugen von der intensiven Recherche der Autorin. Von Kapitel zu Kapitel zu blättern, wirkt, wie in einer Galerie den nächsten Raum zu betreten, wo nicht nur neuer Inhalt, sondern auch neue Präsentationsformen warten. In manchen dieser „Räume“ ist der Romantext so gestaltet wie die Bilder, von denen er handelt: pointillistisch, in kurz hingeworfenen Wörtern und Satzfragmenten, die erst aus einer gewissen Entfernung ein Bild erkennen lassen.

Das Buch ist ein detailverliebtes Sittenbild des wilhelminischen Berlin, sowie ein flammendes Plädoyer für die Kunst. Warnung: es könnte das unwiderstehliche Verlangen auslösen, ein Museum zu besuchen.

Mariam Kühsel-Hussaini: Tschudi. Roman, Rowohlt-Verlag 2020, 24 Euro.

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