Der Spalt in der menschlichen Seele

Gedichte von Louise Glück, besprochen von Daniele Dell’Agli.

Im angelsächsischen Sprachraum ist Louise Glück spätestens seit 1992, als sie den Pulitzerpreis, den bedeutendsten amerikanischen Literaturpreis für ihren Gedichtband „Wilde Iris“ bekam, eine Berühmtheit. Die 1943 in New York Geborene hat mit einem Dutzend Gedichtbänden und zwei Essaysammlungen ein beachtliches Werk geschaffen. Bei uns wurde sie erst nach der überraschenden Verleihung des Nobelpreises bekannt, man erinnerte sich vage, dass bei Luchterhand zwei Bücher in deutscher Übertragung durch Ulrike Draesner, ihrerseits eine vielbeachtete Autorin, erschienen waren – und musste sich zwei Monate gedulden, bis die beiden Titel in einer Neuauflage wieder lieferbar waren.

Nun liegen also mit „Wilde Iris“ und „Averno“ zwei ihrer wichtigsten Gedichtbände in einer vorbildlich zweisprachigen Ausgabe vor. Trotzdem fehlt etwas: Wir finden kein Nachwort, keine Einführung in das Werk einer hierzulande erst noch zu entdeckenden Literaturnobelpreisträgerin. Für instruktive Bemerkungen der Übersetzerin wird man auf die Website des Verlags verwiesen. Doch die gehören ins Buch. Und um diese im zweiten Band nicht zu verdoppeln, hätte man einen Kenner von Glücks Werk, zum Beispiel Holger Pils, für eine Einführung gewinnen können. Trotzdem kann man den keineswegs selbstverständlichen Abdruck des Originals nicht genug loben, zumal er vor Missverständnissen bewahr, wie sie im schlecht informierten Feuilleton kursieren. Ein Vers wie „Keiner ist so verzweifelt wie ich“ (S. 47)“ könnte, aus dem Kontext gerissen, den Eindruck der Larmoyanz bestätigen. Doch im Englischen klingt „No one’s despair is like my despair“ keineswegs wehleidig. Die Übersetzerin hat sich hier wie auch sonst mit guten Gründen für weitgehende Nähe zum deutschen Sprachgefühl entschieden und die Fremdheit einer ins Lapidare stilisierten englischen Diktion reduziert. Um etwas von der Schroffheit der syntaktischen Fügungen bei Glück, der paradoxen Mischung aus zurückhaltender Lakonie und manischer Insistenz der Wiederholungen wiederzugeben, müsste man schon Anleihen bei Thomas Bernhard nehmen.

„Wilde Iris“ überraschte 1992 mit einem Nature Writing der besonderen Art: mit Gedichten, die aus der Perspektive nichtmenschlicher Natur, das heißt aus größtmöglicher Menschenferne präzise Beobachtungen des Alltags mit verstörenden Erkenntnissen verbindet: „Je weiter ich mich von euch entferne, / umso klarer sehe ich euch“ – das ist Programm. Und was Pflanzen und Vögel, Feld, Wald und Schnee, Dämmerung, Wind und Sonnenuntergang, Mond, Sonne und Jahreszeiten den vernunftbegabten Zweibeinern – die sie direkt ansprechen – zu sagen haben, ist weder erbaulich noch schmeichelhaft: Entsetzen und Enttäuschung über soviel Undank und (selbst-)zerstörerische Energie, aber auch Trauer und Verzweiflung über eine nicht enden wollende Geschichte gewaltsamer Naturbeherrschung. Mit Naturlyrik oder Landschaftsdichtung hat das ebenso wenig zu tun wie mit Confessional Poetry in der Tradition Sylvia Plaths, denn das lyrische Ich spricht hier weder privat noch intim, wenngleich man hinter Glücks Sensibilität für die Negativität unseres Naturverhältnis leidvolle persönliche Erfahrungen vermuten darf. „Aber die Abwesenheit jedes Gefühls, ja noch der geringsten /Anteilnahme an mir – da könnte ich genauso gut weiter mit den Birken reden / wie in meinem früheren Leben: sollen sie / nur ihr Schlimmstes tun, sollen sie / mich bei den Romantikern begraben, / und ihre spitzen gelben Blätter / fallen und decken mich.“ In ihrer unpersönlichen Anklage unseres Zivilisationsstils gewinnt bei aller Untröstlichkeit des Grundtons ein „terrestrisches Manifest“ an Gestalt, das ganz im Sinne Bruno Latours mit der surrealistischen Vision eines „Parlaments der Dinge“ (1997) ernst macht: als Tribunal.

„Averno“ (2006) verdankt seinen Namen einem kleinen Kratersee auf den Phlegräischen Feldern – dem brodelnden vulkanischen Areal an der Westflanke des Vesuvs –, der in der Antike als Eingang zur Unterwelt galt. Ein düsterer und gefährlicher Ort des Übergangs aber auch der Vermischung von Lebenden und Toten, passend zum Leitmotiv der Gedichtsammlung, dem Persephone-Mythos, den Glück in Selbstgesprächen, Erzählungen und Reflexionen umkreist und am Ende um eine neue Version bereichert.

Ihre Sprache ist auch in „Averno“ direkt, von expliziter, bildentschlackter Klarheit, wenngleich von beklemmender Tragizität durchwirkt. Ihre Engführung von Konkreta und Abstrakta scheinen die Grenzen des Diskursiven innerhalb lyrischer Formen ausloten zu wollen: „Zeit verging, verwandelte alles in Eis. / Unter dem Eis regte sich die Zukunft. / Fiel man in sie, starb man.“ (S. 93)

Die düstere Geschichte der Demeter-Tochter, die von Hades in die Unterwelt entführt wurde, bietet Glück viele phlegräische (brennende) Assoziationsfelder, auf denen sie die Ambivalenzen des Mutter-Erde-Motivs „prismatisch“ streut, aber auch den (vergeblichen) Kampf der Seele gegen die Erdenschwere und Höllendrift des Körpers inszeniert. „Es heißt, / es gebe einen Spalt in der menschlichen Seele, / die nicht dafür angelegt wurde, dem Leben vollends / anzugehören.“ (43). Vielleicht kommt die Energie, Leiden in Kunst zu verwandeln, aus diesem Spalt?

Wilde Iris. Gedichte. Luchterhand 2020, 136 S., 12 Euro Averno. Gedichte. Luchterhand 2020, 174 S., 16 Euro

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