Zu lange blind gewesen

Andreas Gebhardt empfiehlt „Über Tyrannei“ von Timothy Snyder.

Timothy Snyders Reflexion „Über Tyrannei“ ist DAS Buch zur Stunde. Man hat das Gefühl, den Fahrplan für die Bombardierung ukrainischer Städte in den Händen zu halten als logische Konsequenz 22jähriger Gewaltherrschaft Wladimir Putins, die wir apathisch ignoriert haben. In „Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ beschreibt der US-amerikanische Historiker knapp und eindringlich, wie totalitäre politische Regime errichtet werden, wie Politik durch Propaganda ersetzt, wie also Unterdrückung legitimiert wird und funktioniert, wie die Lüge als selbstverständliches Mittel des Machterhalts eingesetzt wird, wie Andersdenkende und -seiende weggesperrt oder gleich umgebracht werden, wie die freie Meinungsäußerung abgeschafft und wie vorauseilender Gehorsam in offenem Terror mündet. Seine Beispiele entnimmt er der blutigen europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, vornehmlich dem 3. Reich und der Sowjetunion. Aber er zieht immer wieder hellsichtige Parallelen zur Gegenwart, zum zerstörerischen Donald Trump natürlich – und nicht zuletzt zu Putin!

Mit seinen Beispielen fordert Snyder die Leser zu Reflexion, Misstrauen und Wachsamkeit auf, denn man muss immer das Schlimmste befürchten und letztlich den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. Wie jene Journalistin, die im gleichgeschalteten russischen Staats-TV gegen den Krieg protestierte, wissend, dass ihr 15 Jahre Arbeitslager drohen.

Snyders Traktat erschien erstmals 2017 als Menetekel für die Westentasche – im Jahr als Trump Präsident wurde. Schon damals war es als Warnung zu verstehen. Im Herbst letzten Jahres hat der Verlag nachgelegt und eine neue Auflage veröffentlicht. Sie kommt – auf den ersten Blick – wie eine „Geschenkausgabe“ daher, gestaltet von Nora Krug. Die deutsche, in New York lebende Illustratorin erregte 2018 mit „Heimat“ weltweit Aufsehen. Darin setzt sie sich in der Form einer Spurensuche grafisch-textlich mit der Vergangenheit ihrer Familie in Nazi-Deutschland, mit Verstrickung und Kollektivschuld auseinander. Dass sie Snyders Traktat illustriert, ist konsequent und folgerichtig. Im Grunde geht es nämlich um die gleiche Frage: Ab wann mache ich mich mitschuldig? Snyders Buch ist im besten Sinne aufklärerisch. Nora Krug hat daraus ein Gesamtkunstwerk gemacht. Nun kommen Snyders Reflexionen durchaus ohne Illustrationen aus. Krug baut jedoch mit ihrer umfassenden, collageartigen Gestaltung vor allem der Jugend eine Brücke: Also liebe Eltern, wenn ihr euren Sprösslingen erklären wollt, dass unsere Sicherheit eine trügerische ist, dass die Freiheit immer und überall verteidigt werden muss – dann legt ihnen „Über Tyrannei“ ans Herz! Denn wir müssen es wohl einsehen: Wir waren zu lange blind.

Timothy Snyder: Über Tyrannei. Illustriert von Nora Krug, Verlag C.H. Beck, München 2021, 128 S., 20 Euro

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