Christa Müller bespricht „Kamtschatka“ von Miguel Figueras.
„Kamtschatka“ kommt mir sofort in den Sinn, wenn es gilt, einen Roman zu empfehlen. In unserer Familie ist das Buch seit vielen Jahren ein „Bestreader“. Der Autor mag relativ unbekannt sein, dem Roman jedoch gebührt alle Ehre. Der gleichnamige Film wurde 2003 auf der Berlinale ausgezeichnet.
Die Geschichte spielt 1976 in Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur. Menschen verschwinden. Menschen müssen fliehen. Auch die Familie eines regimekritischen Anwalts. Sie versteckt sich gerade noch rechtzeitig auf einem Landgut. Der Sohn ist zu dieser Zeit zehn Jahre alt. Die Eltern schützen seine Seele, indem sie ihn in seine eigene Fantasiewelt abtauchen lassen. Der Junge berichtet hier nicht in der Sprache eines Zehnjährigen, jedoch über Erlebnisse aus dessen Sicht. Manchmal sind Einsichten des erwachsenen Autors eingearbeitet. Aber um Politik geht es nie. Das macht die Geschichte wunderbar leicht und humorvoll, obwohl die Bedrohung im Hintergrund ständig präsent ist.
Der Roman beginnt mit dem Satz: „Das Letzte, was Papa zu mir sagte, das letzte Wort, das ich aus seinem Mund hörte, war Kamtschatka.“
Dieser Satz wird am Ende wieder aufgenommen. Dazwischen liegt eine Zeit der Flucht von Ort zu Ort, bis es keinen sicheren Ort mehr gibt. Der Titel „Kamtschatka“ verweist auf ein Strategiespiel („Risiko“), das der Junge während der Flucht mit seinem Vater gespielt hat. Es gilt, möglichst viele Länder zu besetzen. Der Vater gewinnt immer, weil er sich auf das kleinste Land „Kamtschatka“ zurückzieht, wenn er in Bedrängnis gerät und es mit all seinen Armeen verteidigt. Wenn „der Feind“ sich aufgerieben hat, beginnt er, von der Keimzelle Kamtschatka aus, die Welt vorsichtig wieder zu erobern. Der Junge verliert gegen den Vater, bis er das Prinzip begreift.
Eine Warnung: Die Geschichte macht traurig. Ich lese sie so: Der Bericht über den wundersamen Sommer und Herbst 1976 ist das „Kamtschatka“ des Autors Miguel Figueras. Als er den Bericht abschließt, den Roman beendet, ist er wieder bereit, sich die Welt zu erobern.
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, 2008, 9.90 €