Mechanismen der Kunst, ihrer Kritik, Erwartungen und Erfüllungen

Thomas Bündgen über Christian Saehrendt: „Kunst im Kreuzfeuer“

Die Lektüre des Buches „Kunst im Kreuzfeuer“ von Christian Saehrendt ist wie der Moment, in dem man nach einer langen Partynacht morgens die Vorhänge aufzieht und die Fenster öffnet. Ein frischer Luftzug bläst die Emotionalisierung und Polarisierung hinweg, in die man durch das Betrachten von und Nachdenken über Kunst leicht hinein gezogen wird. Saehrendt – 1968 in Kassel geborener Kunsthistoriker mit zahlreichen Veröffentlichungen – beschreibt diese Reaktion mit der Entstehung des modernen Kunstmarktes und der Kunstkritik im Paris des 19. Jahrhunderts und seinen Salons. Die damalige Entwicklung der Strategie des Skandals ist bis heute eines der erfolgreichsten Mittel zur Gewinnung von Aufmerksamkeit auf einem nach kapitalistischen Prinzipien funktionierenden Kunstmarkt.

In weiteren Kapiteln wird Gegenwartskunst, insbesondere moderne Kunst als Zielscheibe der politischen Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschrieben, in der sowohl linke wie rechte Kunstkritik geäußert wird, bis zur Entfernung „Entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus. In der Bundesrepublik brechen diese Diskurse wieder auf, wieder sieht sich moderne Kunst über viele Jahre mit rechter, aber auch linker Kritik konfrontiert, wie auch mit solcher aus der bürgerlichen Mitte heraus, etwa als Verschwendung von Steuermitteln. Heute genießt sie in der Gesellschaft weitestgehende Akzeptanz, bis auf gelegentliche Ausnahmen.

In zwei weiteren Kapiteln widmet sich Christian Saehrendt auf circa 80 Seiten der Geschichte und Entwicklung der Kasseler documenta, wodurch dieses Buch insbesondere für die hier Interessierten wertvoll wird. Die documenta von der „Staatsaufgabe“ über den „Zirkus der Scharlatane“ bis zum „Treffpunkt der globalen Bourgeoisie“ lauten Überschriften. Der Autor erinnert an die schon fast vergessenen Zeiten, als die dort zur Schau gestellte moderne Kunst das Ziel der Linken war, sowohl der Kunstkritik der DDR als auch der westdeutschen K-Gruppen, und sie als Zerfall der Bourgeoisie und Ausdruck des ausbeuterischen Kapitalismus betrachtet wurde. Hier bietet das Buch eine Fülle von Geschichten auf, wie zum Beispiel die Forderung, Joseph Beuys als Scharlatan in der Fulda zu ertränken, eine Äußerung, die damals nur nicht im Netz, sondern in den Leserbriefspalten der Kasseler Lokalzeitung veröffentlicht wurde. Auch der ungern berichtete Vandalismus an den Objekten als „stummer Protest der Ausgeschlossenen“ wird geschildert. Saehrendt zeigt, wie später der scheinbare Widerspruch der documenta 15 als großer Anklage des weißen Rassismus und Kolonialismus zusammenpasst mit ihr als Treffpunkt der globalen (weißen) Bourgeoisie.

Die größte Gefahr für moderne Kunst im Westen geht für den Autor heute von der Verbindung fundamentalistischer Religiosität mit einer „identitätslinken“ Agenda aus, die über den Topoi der Gefühlsverletzung rigorose Moralvorstellungen durchsetzen will und immer stärker den öffentlichen Diskurs bestimmt.

Christian Saehrendt: Kunst im Kreuzfeuer. documenta, Weimarer Republik, Pariser Salons: Moderne Kunst im Visier von Extremisten und Populisten. 241 Seiten. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. 50 Euro.

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