Lob des Landlebens

Ein wilder Ritt: Mathias Enards Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“.

Ein Anthropologe entdeckt die Provinz. Mit diesem schnöden Satz ließe sich Mathias Enards Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“ schnöde zusammenfassen. Aber was für ein Reichtum, welch opulent-barocke Lust am Erzählen und fabulieren steckt dahinter. „Ich habe beschlossen, diesen Ort Das Wilde Denken zu nennen, was sonst?“ So geht’s los und nichts anderes ist dieses Buch, ein einziger wilder Ritt, durch Raum, Zeit, Landschaft, Natur, Literatur, Geschichte, Kochkunst, Musik und – nicht zuletzt – kleinen sexuellen Abschweifungen.

Komische Typen begegnen dem jungen Pariser Forscher David Mazon im Marais Poitevin, einem Landstrich, der sich nordöstlich von La Rochelle bis nach Niort erstreckt. Er will seine Doktorarbeit über das Leben in der Provinz schreiben, führt Interviews mit den exotischen Dörflern, denen er zunächst mit einer Mischung aus großstätischer Überheblichkeit, Ironie und distanziertem Staunen begegnet. Er sammelt, beobachtet, lässt sich immer mehr ein auf diese ihm bis dahin verschlossene Welt. Zunehmend scheint ihm sein Ziel zu entgleiten. Er schreibt keine wissenschaftliche Abhandlung, das wäre zu langweilig, sondern notiert seine treffenden Beobachtungen und Notizen zunächst im Tagebuch. Dieses rahmt den sehr langen Mittelteil, in denen die weit verzweigten Geschichten der anfangs skizzierten Figuren erzählt werden, die durch Seelenwanderung mit der Geschichte der Region, mit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit untrennbar verwoben sind, „denn das Schicksal, wo alles miteinander verbunden ist (…) kennt keine Zeit“. Seelenwanderung? Jawohl. Und so gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass etwa der Abbé Largeau nach seinem Ableben als Wildschwein wiedergeboren wird, denn hier kann er endlich die Sau rauslassen, wonach er sich in seinem vorigen Leben so lange gesehnt hat.

Mit diesem überwältigend schlüssigen Kunstgriff setzt Enard, der 1972 in Niort, also am östlichen Rand des Marais Poitevin, geboren wurde, seiner Heimat ein monumentales Denkmal. Das Wilde Denken wirft Erzählkonventionen witzig über den Haufen, indem es mit Fantasie gepaarte präzise Schilderung von Land und Leuten zum alleinigen Maßstab des Erzählens macht. Im Mittepunkt, das sei noch erwähnt, steht das titelgebende ausschweifende Jahresbankett der Totengräber, eine einzige überbordende Fress- und Sauforgie, in der die Grableger wortgewandt, streitend, lustvoll und voller Gelächter dem Leben huldigen. Wie es auch Enard mit diesem umwerfenden Buch tut, das höchstes Lesevergnügen garantiert.
Andreas Gebhardt

Mathias Enard: das Jahresbankett der Totengräber. 480 Seiten, Hanser Berlin 2021 (geb. 26 €), Piper 2022 (TB, 15 €).

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