Demokratie der Zuneigung

Roswitha Rüschendorf empfiehlt: „Die zerrissene Gesellschaft“ von Claudine Nierth und Roman Huber.

Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Krisen haben die beiden „Politaktivisten“ Claudine Nierth und Roman Huber Bilanz ihrer jahrzehntelangen hauptamtlichen Arbeit in der zivilgesellschaftlichen Organisation Mehr Demokratie e. V. gezogen. Ihr Fazit ist ernüchternd: Die politische und gesellschaftliche Unfähigkeit, Krisen und Konflikte nachhaltig zu lösen, ist alltäglich erfahrbar, und die Hindernisse, sie zu überwinden, scheinbar unüberwindbar. Parlamentarische Abläufe und Entscheidungen, aber auch Mitwirkungsangebote und direkte Einflussnahmen der Bürgerinnen und Bürger auf die politischen Entscheidungen, z.B. über Bürgerbegehren und -entscheide, haben die gegenwärtigen Entwicklungen mit beobachtbaren gesellschaftlichen Spaltungen, zunehmendem Rechtspopulismus und Vertrauensverlust in unser Rechts- und Staatssystem nicht verhindern können. Begleitet werden sie von Ohnmachtsgefühlen und Ängsten.
Es bedürfe, so die Autoren, erweiterter Ziele, Ansätze und neuartiger Zugänge. Dabei richten sie den Blick auf die Prozesse, die zu politischen, aber auch persönlichen Entscheidungen führen. „Die Qualität einer Entscheidung (hängt) von der Qualität des Prozesses ab, der zur Entscheidung führt“, so deren Grundüberzeugung. Gegenwärtig fänden Entscheidungsprozesse zu wenig (oder sogar keine?) Beachtung. Entsprechend sind sie von mangelnder Qualität. Dass dem so ist, wird als ein strukturell bedingtes und historisch eingeübtes Problem analysiert.

Ihr Appell: „Wir brauchen eine Demokratie der Zuneigung.“, ja, ein „neues Paradigma“. Dafür benötigten Politik und Gesellschaft mehr „soziale Fähigkeiten“ und „mehr Psychologie“ und ein „fühlendes Denken“ in der Gesellschaft und Politik.

Worauf basieren ihre Forderungen und Hoffnungen? Ausgehend von ihren Erfahrungen und zahlreichen Gesprächen bauen sie ihre Argumente auf vier Prämissen auf:
1. „Der Mensch (ist) im Grunde gut, willens und in der Lage, sich zu verändern.“
2. „Alle Menschen brauchen eine Grundstabilität.“
3. Wir stecken alle in einem „Labyrinth der Schatten der Vergangenheit“.
4. Viele Verhaltensmuster, Probleme, Eigenschaften etc. beruhen auf unbewusste und emotional wirkende „Wunden aus der Vergangenheit“, kurz kollektiver oder persönlicher Traumata, insbesondere „Entwicklungs- bzw. Bindungstraumata“.

Um Schatten und Trauma zu überwinden, plädieren Nierth und Huber für den Erwerb von persönlichen, inneren und gesellschaftlichen „Kulturkompetenzen“, mit denen rationales Denken um emotionale und Traumazuwendung erweitert wird. Dahinter steht die Überzeugung: Der bewusste und professionelle Umgang mit (kollektiven) Traumata wird die Demokratie stärken und die gesellschaftliche Polarisierung überwinden. Ihre Überlegungen beziehen sich auf zahlreiche sozialwissenschaftliche und psychologische Untersuchungs- und Forschungsergebnisse, die sie mit ihren Erfahrungen verbinden. In den letzten drei Kapiteln werden Voraussetzungen, Methoden und Formate vorgestellt, die beim Erwerb der inneren und gesellschaftlichen Kompetenzen hilfreich sind.

Fazit: Der Lösungsansatz der Autoren scheint einfach. Seine Umsetzung beinhaltet jedoch radikale Veränderungen alltäglicher Gewohnheiten und Konventionen. Sie würden letztendlich zu einem Paradigmenwechsel der politischen Diskussionen und parlamentarischen Entscheidungswege sowie des zivilgesellschaftlichen Miteinanders führen. Es liegt ein Buch vor, welches gelesen, beachtet und möglichst interdisziplinär diskutiert werden sollte. Ein „Plädoyer für die Hoffnung und die Perspektive, dass jeder von uns Einfluss auf eine friedlichere, die Umwelt schützende und erhaltende Welt hat.“ Ob der Ansatz mehr als eine Utopie sein kann, kann nur die Praxis erweisen. Angesichts der vielfältigen Probleme wäre es einen Versuch aller wert.

Claudine Nierth/Roman Huber: Die zerrissene Gesellschaft. So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter. Goldmann Verlag München 2023. 271 S., 18 EUR.

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