Grellrot auf Pink

Angela Lehners Roman „Vater unser“, besprochen von Jürgen Röhling

In ihrem furiosen Romandebüt erzählt Angela Lehner von den Narben der Menschen.

Als dieses Buch auf dem Tisch lag, dachte man: Das ist ein Fehldruck. Ein Vorabexemplar. Ein Irrtum der Druckerei! Der Umschlag in Pink, die Schrift darauf in Grellrot, kein Mensch kann das lesen! Das kann keine Absicht sein!

Es ist natürlich Absicht. Wenn man geneigt ist, Covergestaltung als symbolisch, gar allegorisch, irgendwie jedenfalls zeichenhaft zu deuten und zu unterstellen, dass Verlage heute, wo man dem Buch nicht mehr auf hundert Meter Abstand ansieht, ob es von Suhrkamp, Fischer oder Bastei-Lübbe verlegt wurde, auf eine raffinierte Beziehung zwischen Inhalt und Design legen, dann wird man spätestens bei der Lektüre von Angela Lehners Erstlingsroman „Vater unser“ zum Schluss kommen: dieses unlesbare grelle Rot-auf-Pink, diese Verweigerung von Klarheit, ist ein raffinierter Verweis auf das Spiel mit unseren Vorstellungen von Normalität und Verrücktheit, um die es in diesem Buch geht – da erzählt eine junge Frau, die in die Psychiatrie eingeliefert wird, weil sie eine Kindergartengruppe ermordet hat. Jedenfalls erzählt sie das. Es stimmt aber nicht. Und vieles andere, das sie erzählt, stimmt auch nicht. Sie ist schlecht lesbar, diese Eva Gruber, obwohl – oder gerade weil – sie so viel über sich erzählt. Eine unzuverlässige Erzählerin, freut sich die Germanistik; eine Erzählerin, die mal so, mal so daherredet, die lügt, aggressiv ist, beleidigt. Aber immer schlagfertig ist sie! Vor allem im Umgang mit dem Therapeuten Korb, der das aber auch kann: dieses zynische, peitschende Verbalduell, dieses Sich-fertig-machen, dem anderen keinen Stich gönnen. Und noch viel mehr Germanistenfreude vermittelt Angela Lehner, so mit vielen Thomas-Bernhard-Anspielungen, mit dem sie den Hang zur Suada, der man lustvoll-gepeinigt folgt, gemeinsam hat.

Eva Gruber ist also Insassin einer Heilanstalt. Muss sie geheilt werden? Wovon? Fragte man sie selbst, sie sähe ich eher als diejenige, die etwas zu heilen hat: ihre kaputte Familie, die den Grund und den Hintergrund ihrer Hospitalisierung bildet. „Man darf die Narben der Menschen nicht unterschätzen“, weiß Eva, die ihren Bruder, der schon in der Anstalt ist, retten will. Und weil sie die Abrechnung mit ihren Eltern, vor allem dem Vater, der die Familie verlassen hat, sucht. Doch der Bruder will sich gar nicht retten lassen. Also zwingt sie ihn dazu. Nun wird „Vater unser“ auch noch zur Road Novel, mit bemerkenswert vielen Fortbewegungsmitteln. Eva schleppt ihren halbtoten, konsequent nahrungsverweigernden Bruder – er heißt Bernhard, so wie der große Thomas mit Nachnamen – zum Showdown, zur Konfrontation mit dem Vater. Zwischendurch wird in Scheunen genächtigt und die österreichische Provinz wie auch die österreichische Sprache genüsslich erkundet. Selten war ein Buch so sehr Abrechnung mit der Heimat und gleichzeitig Liebeserklärung, ohne sich dazwischen zu entscheiden, bis zum bitteren, überraschenden Schluss. „Vater unser“ fängt sehr heftig an. Um sich dann zu steigern. Ein furioser Roman, sprachlich so abgeklärt, dass man das Debüt kaum glauben mag. Am Ende stimmt nichts mehr. Aber was hat je gestimmt? Alle tot, oder alles Lüge? „Eva lügt immer“, haben schon die Schulkameraden gesagt. Aber vielleicht ist auch das gelogen. Noch mal lesen? Bei diesem Buch sehr zu empfehlen.

Angela Lehner, Vater unser. Roman. Hanser Berlin 2019. 284 Seiten, 22 €.

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