Entzauberung des Genderkults

Daniele Dell’Agli bespricht „Natur und Gender“ von Christoph Türcke.

Dass das biologische Geschlecht ein soziales Konstrukt sei: diese hochspekulative, durch keine wissenschaftliche Studie belegte These Judith Butlers ist nicht nur axiomatische Grundlage der Gender Studies, sondern mittlerweile zu so etwas wie dem unhinterfragten Grundrauschen kulturlinker Autosuggestion geworden. Wer sich dem nicht beugt und es wagt, auf das Selbstverständlichste hinzuweisen, das jedem ideologisch unverblendeten Menschen unmittelbar erfahrbar ist: dass das Geschlecht zunächst einmal eine Naturgegebenheit ist, die zwar durch soziale und kulturelle Einflüsse modelliert wird, dabei aber immer ein jeder Manipulation Widerstehendes, Eigensinniges, Unverfügbares behält: wer an solche triviale Wahrheiten erinnert, sieht sich heutzutage von einem Kartell aus akademischen Diskurswächtern, ihren stets auf Reizwörtern lauernden Shitstorm-Meuten und zeitgeistig opportunistischen Gesinnungsjournalisten attackiert.

Der Philosoph Christoph Türcke, der zu den wenigen seiner Zunft gehört, die sich auf  gesellschaftspolitisch brisante Themen einlassen, wobei er die Provokation weder sucht noch scheut, hat es ihnen allen nicht leicht gemacht und mit seinem neuen Buch „Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns“ zum ersten Mal wieder seit langem – seit Steven Pinkers eher unterkomplexe Behandlung des Verhältnisses von Natur und Kultur in „Das unbeschriebene Blatt“ – eine Bresche der Nachdenklichkeit in die machtgeschützte Festung politisch korrekten Irrsinns geschlagen. Eine Denkpause, die schon deshalb nicht mit den üblichen Hashtag-Hetzparolen überlärmt werden kann, weil der Autor seine Argumentationslinien mit beeindruckender Gelehrsamkeit von der Genesis über Kant und Freud bis zu Foucault und dem postmodernen (De-)Konstruktivismus ausspinnt. Namentlich der Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) bzw. aus dem Sprechakt („Es werde Licht“) ist Türcke auf der Spur, deren aktuelle Form er in der Anmaßung erkennt, Körper als Materialisation von Diskurseffekten zu betrachten und das biologische Geschlecht nach Belieben ändern zu können:

„Die Natur ist das, was wir aus ihr machen. Aber ist sie nur das – und sonst nichts? Erst diese Frage rührt an den Nerv des Problems. Wer sie munter bejaht, mag sich auf dem Weg zur Emanzipation von allen Naturschranken wähnen. Faktisch befindet er sich am Übergang von der Realitätstüchtigkeit zum Machbarkeitswahn, um nicht zu sagen, zum Schöpfungswahn.“

Gegen die trans- und queerfeministischen Allmachtsphantasien bietet Türcke die geballte Vernunft einer Jahrmillionen alten Evolution ebenso auf wie die Hypothek eines mit Platon einsetzenden Leib-Seele-Dualismus, der jede Behauptung eines Ichs, sich im falschen Körper zu befinden, in unauflösliche Widersprüche verwickelt. Er lässt sich auch nicht die peinliche Schattenseite der Genderdoktrin entgehen, dass sie ihren Ursprung in einem katastrophal gescheiterten Menschenversuch der 50er Jahre nimmt, bei dem die Genitalverstümmelung eines kleinen Jungen samt anschließender hormoneller Umpolung zu einer tiefunglücklichen Existenz mit frühzeitigem Suizid führte. Ein Menetekel, das per se schon Erwartungen an chirurgische Manipulationen des biologischen Geschlechts einen Dämpfer versetzen müsste, würde diese Geschichte nicht aus naheliegenden Gründen von Transgender-Aktivisten.  totgeschwiegen. 

Mit Transphobie, wie prompt dem Autor vorgehalten wurde, hat seine philosophische Analyse des Problems nichts zu tun, zumal es jedem aufgeweckten Zeitgenossen klar ist, dass die plötzliche Vervielfachung von „Genderdysphorien“ – wie die dissoziative Störung der Geschlechtsidentität bei jungen Menschen mittlerweile verharmlosend genannt wird – ihrerseits Symptom eines Bündels gravierender Zeitgeistpathologien ist. Dass eine Disziplin, die am ehesten in der Lage wäre, die Abgründigkeit des Phänomens auszuloten, die Psychoanalyse, dabei ist, sich dem wohlfeilen konstruktivistischen Mainstream anzubequemen, vermerkt er am Rande. Seine Ausführungen zum pathogenen Erregungsregime der sozialen Medien und zur heimlichen Komplizenschaft der Trans-Community mit dem Neoliberalismus und dessen Machbarkeitsideologie gehören zum Erhellendsten, was die Kulturkritik derzeit zum Verständnis der Gegenwart beizutragen hat. Wer sich für diese Themen interessiert, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Christoph Türcke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns. 232 S., Beck Verlag 2021, 22,00 Euro.

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