Das geht uns an!

Christa Müller über Wislawa Szymborskas Gedichtband „Deshalb leben wir“.

Ich bewundere formal experimentelle Lyrik mit kuriosen Wortschöpfungen, deren Sinn sich nach langer Betrachtung erschließt. Die Geduld, sie zu entschlüsseln, habe ich oft nicht. Zeitgenössische Lyrik muss nicht kompliziert sein. Wislawa Szymborska, die polnische Nobelpreisträgerin, führt uns das vor mit ihren auch intellektuell anspruchsvollen Gedichten. Sie holt uns ab in der Alltagswelt, schärft unsere Aufmerksamkeit, gleich mit dem ersten Satz:

„Vieles verdanke ich denen, die ich nicht liebe.“ (aus „Danksagung“).

Oder: „Er kam zurück. Sagte nichts. Klar, dass er Ärger hatte.“ (aus „Heimkehr“).

Sie thematisiert, was uns angeht: „Wie kalkulierst du Verluste? / Freundschaften, unerfüllte, / Welten, in Eis geschlagene.“ (aus „Fragen, die ich mir stellte“).

Ihre Gedankenwege überraschen, faszinieren, durchdringen mehrere Ebenen. Das Kunstvolle zeigt sich im Einfachen, die Melancholie mischt sich mit Humor und hinter dem Sichtbaren gibt es noch eine andere Welt. Wenn wir Szymborskas persönlichem Blick auf die Dinge folgen, wird uns die neue Perspektive bald wie eine eigene Entdeckung vorkommen. Man möchte immerzu zitieren anstatt zu beschreiben. Ihre Gabe, alles neu zu sehen und zu fügen erschließt sich sofort. Ich kann Sie nur auf die Spur setzen und dann…, entdecken Sie selbst. Karl Dedecius wird Sie mit seiner Einleitung bestens vorbereiten und über Hintergründe informieren.

Noch ein Zitat!

… „Von ungezählten Insekten erwähne ich nur die Ameise, / die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzschutzpostens/ auf dessen Frage: woher-wohin, sich zu keiner Antwort bequemt.“ (aus „Psalm“).

Wislawa Szymborska: Deshalb leben wir. Bibliothek Suhrkamp Frankfurt am Main, 1980, 182 S., 17 €

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