Multiple Krisen

Stefan Lamby: „Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges“.

Politik im Trial-and-Error-Modus: Das neue Buch des Journalisten, Autors und Produzenten Stefan Lamby ist eine brillante Lektion in jüngster Zeitgeschichte. Bei der Lektüre wird einem schnell klar: Sie tun einem nicht leid, aber man möchte auch mit keinem tauschen, weder mit Olaf Scholz, noch mit Lindner, Baerbock oder Habeck.

Mit einem Selfie hatte alles angefangen: Außenministerin Annalena Baerbock, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Finanzminister Christian Lindner und Verkehrsminister Volker Wissing posteten ein Selfie. Es bedeutete: Wir stehen zusammen, wir sind der Neuanfang, pflegen einen anderen Politikstil, wir verkörpern die Zukunft. Wenige Monate später war der Elan gänzlich verflogen und der Katzenjammer begann, der bis heute anhält. Putins Truppen überrollten die Ukraine – richtig deuten wollte oder konnte die Zeichen keiner – und plötzlich war alles anders.

Seitdem zerlegt sich die Koalition aus SPD, Grünen und FDP gegenseitig. Ihre Repräsentanten werfen permanent eigene Überzeugungen über Bord, treffen unliebsame, bisweilen einsame Entscheidungen, die nicht nur die eigene Klientel vergraulen, sondern Widerstände auf breiter Front hervorrufen. Energiekriese, Gasnotstand, Gasumlage, Heizungsgesetz. Sollen Atom- und Braunkohlekraftwerke weiterbetrieben werden, sollen LNG-Terminals gebaut werden, wenn ja, muss es schnell gehen, sehr schnell, notfalls in Naturschutzgebieten. Und dann die Frage nach den Waffenlieferungen an die Ukraine: erst vehementes Nein, dann mal sehen, dann immer mehr. Scholz, Habeck, Baerbock im Dauerstress, Krisendiplomatie am Limit, Kratzbuckeleien und zermürbende Verhandlungen mit Despoten in China, Afrika, Indien. Zänkereien, Durchstechereien, persönliche Angriffe, Niederlagen, Zaudern, Zugzwänge, Entscheidungsschwäche, Umfragewerte im Tiefflug, Gefahr von rechts, Klimaaktivisten von links. Multiple Krisen: Krieg, Klimawandel, Hunger in der Welt.

Lamby hat die Akteure über Monate auf Pressereisen rund um die Welt begleitet, viele Interviews geführt und er zeichnet anschaulich das Bild einer Regierung im Dauernotstand: zerstritten, hilflos, resignierend. Es ist kein Debattenbuch, sondern eine chronologische, erstaunlich nüchterne Bestandsaufnahme der inneren Dynamiken einer Koalition, die aneinandergekettet ist, aber auch nicht miteinander kann. Man liest diesen Blick hinter die Kulissen nicht nur mit Gewinn, sondern auch mit Spannung. Parallel dazu hat Lamby die sehenswerte, dreiteilige und gleichnamige Dokumentation gedreht, die weiterhin in der ARD-Mediathek zu finden ist.

Andreas Gebhardt

Stefan Lamby: Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges. Ein Report aus dem Inneren der Macht. Verlag C.H. Beck, 400 S. 26,90 Euro

Nach oben scrollen