Dimensionen eines „kulturellen Bürgerkriegs“

Daniele Dell’Agli über „Der alte weiße Mann“ von Norbert Bolz. 

Zum 80. Geburtstag von Volker Schlöndorff brachte die Berliner Zeitung ein längeres Interview mit dem weltweit anerkannten deutschen Regisseur. Der Titel: „Es ist nicht angenehm, als alter weißer Mann bezeichnet zu werden.“ Mit diesem Unbehagen steht Schlöndorff nicht allein da. Praktisch jeder Leistungsträger in Kunst und Kultur, Wissenschaft und Politik, der ein bestimmtes Alter und eine gewisse Prominenz erreicht hat und unverkennbar männlichen Geschlechts ist, muss heutzutage damit rechnen, von einer sich als woke gerierenden linken Sekte am virtuellen Pranger der asozialen Medien als „alter weißer Mann“ aufgespießt zu werden. Was das genau bedeutet und wie es dazu kommen konnte, analysiert der bekannte Medienwissenschaftler und Kulturphilosoph Norbert Bolz in seinem jüngsten Buch.

Gleich in der Vorbemerkung lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass sein Buch von einem „kulturellen Bürgerkrieg“ handelt und dass dieser starke Begriff alles andere als eine Übertreibung darstellt. Denn eine kleine, lautstarke und gut vernetzte Minderheit hat es geschafft, die zentralen Ideologeme von Wokeness, Cancel Culture und Gendermainstreaming, die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, in den Medien, den Bildungsanstalten und weiten Teilen der Politik durchzusetzen. Das von den politisch korrekten Kulturrevolutionären dabei immer wieder bemühte Narrativ ist die Idee eines Sündenbocks, der an allen Übeln dieser Welt, an Naturzerstörung und Klimawandel, Armut und soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Kolonialismus und Sexismus schuld sein soll: der alte weiße Mann. Ihm soll es an den Kragen gehen, er muss weg. Wie diese ebenso wahnhafte wie unterkomplexe Weltsicht mit äußerster Aggressivität alle Domänen des kulturellen Lebens erobern und vergiften konnte, wird im Folgenden von Bolz akribisch rekonstruiert, wobei er sich nicht mit der kritischen Bestandsaufnahme eines Syndroms begnügt, sondern weit ausholend in der jüngeren Geschichte die Genese des heute triumphierenden Unwesens erläutert.

In drei großen Kapiteln untersucht er die Feindbilder der woken Jakobiner: wofür stehen eigentlich „alt“, weiß“ und „männlich“? Die Antwort in Kurzfassung: „Alt steht für Tradition, Erfahrung, Reife, Konservativismus, Bürgerlichkeit und Normalität.“ „Weiß steht für Aufklärung, europäische Rationalität, moderne Technik, rationalen Kapitalismus und den Universalismus der Menschenrechte.“ Und „männlich steht für  Naturbeherrschung, Selbstbehauptung, Heldentum, Freiheitsdrang, Wettkampf, Stolz, Risikobereitschaft, Mut zur Selbständigkeit, Individualität, Exzellenz.“

Mit großer Gelehrsamkeit schlüsselt der Autor diese Begriffe historisch auf, um verständlich zu machen, warum sie ebenso pauschal wie argumentfrei von militanten Zeitgenossen bekämpft werden, denen nicht einmal auffällt, dass sie dabei den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Denn nichts mutet absurder an als die von ihnen – mal antirassistisch, mal postkolonial oder radikalfeministisch instrumentierten – Tribunalisierungskampagnen, wenn man bedenkt, dass es just die „alten weißen Männer“, also auch die längst verstorbenen  Philosophen, Wissenschaftler, Künstler und Politiker sind, denen die gegenwärtige Gesellschaft, der krakeelende Mob inbegriffen, alles verdankt, was sie auszeichnet und wofür sie außerhalb Europas und Nordamerikas auf der ganzen Welt bewundert und beneidet wird.

Gelegentlich schießt der Autor bei der Verteidigung der angegriffenen Werte und Institutionen hinaus, wenn er etwa die bürgerliche Familie als Hort der Freiheit und Inbegriff des Nonkonformismus preist oder gar dem Kapitalismus attestiert, sein universalisiertes Profitstreben habe für mehr Gleichheit auf der Welt gesorgt. Diese trotzigen Lobeshymnen bleiben allerdings marginal und schmälern nicht das Verdienst dieses brillant und verständlich geschriebenen Buches, das mit Scharfsinn eine der großen Sozialpathologien unserer Zeit seziert und die bislang fundiertesten Erklärungen ihrer Entstehung liefert.

Norbert Bolz, Der alte weiße Mann. Sündenbock der Nation. Langen Müller Verlag München, 221 Seiten, 24 Euro

 

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