Zwischen allen Stühlen

Stasi – wer denkt da nicht an „Das Leben der Anderen“, also an grimmig dreinschauende graue Männer in grauen Mänteln oder Windjacken? Die Staatssicherheit war grau, trostlos, abgrundtief böse und durch und durch männlich. Von den rund 173.000 „Informellen Mitarbeitern“ (1988/89) waren 10 bis 15 Prozent Frauen, wobei diese nur selten an der vordersten Front eingesetzt wurden und kaum mit dem Machtapparat assoziiert werden.

Nun wirft Clemens Böckmann in seinem starken Debüt „Was du kriegen kannst“ beispielhaft ein Schlaglicht auf die weibliche Seite der Stasi, auf IM „Anna“, im Zivilleben Uta. Die attraktive, alleinstehende junge Frau und Mutter einer Tochter wird 1971 von dem Geheimdienst angeworben und auf Geschäftsmänner aus dem Westen angesetzt, die die Leipziger Messe besuchen. Man freundet sich an, tauscht sich aus, feiert, trinkt, geht ins Bett. Das Leben konnte – unter gewissen Umständen – auch in der DDR bunt sein. IM „Anna“ fertigt Berichte an, ist Stasi-Frau und Sexarbeiterin zugleich, genießt das Leben in vollen Zügen, findet Anerkennung, wird mit Devisen, Schmuck und teuren Kleidern reich beschenkt. Sie nimmt alles, was sie kriegen kann, was in einem Staat, in dem es wenig gibt, sehr viel ist. Allmählich gerät ihr Privatleben aus den Fugen, der Alkohol gibt ihr den Rest. Da sie keinen untadeligen Lebenswandel im Sinne des Sozialismus führt und irgendwann aufhören will, wird sie von der Stasi selbst ins Visier genommen. Der so verlogene wie paranoide Überwachungsapparat, war unerbittlich, zeigte Zähne, fraß manche seiner Kinder und spuckte sie als seelische Wracks wieder aus.

Sehr klug montiert Böckmann all das zu einer multiperspektivischen Collage, in der sich Stimmen und Ebenen bisweilen zu vermischen scheinen. So erzählt Uta ihre Geschichte im Rückblick auf ihr Leben ebenso wie der Ich-Erzähler, der Uta in der Gegenwart trifft, sie befragt und mit ihr frühere Schauplätze aufsucht. Eine neutrale Instanz fügt Historisches und Biografisches distanziert hinzu. Zuletzt wird noch aus den sperrigen, teilweise geschwärzten Stasi-Akten zitiert. Welcher Sichtweise ist zu trauen?

Roman oder doch eher Doku-Fiction? Das scheint nebensächlich. Jedenfalls ist Böckmann das aufwühlende Porträt einer Frau gelungen, die erst Täterin war und schließlich Opfer wurde. „Was du kriegen kannst“ ist eine ebenso anspruchsvolle wie erhellende Lektüre, die eine weitere Facette der DDR-Diktatur aufzeigt. Ob Böckmanns Debüt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wird? „Was du kriegen kannst“ hätte es verdient.
Andreas Gebhardt

Clemens Böckmann: „Was du kriegen kannst“. Hanser-Verlag 2024, 413 Seiten, 24 Euro.

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